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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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seinen forensischen Instinkt ansprach), und so war nie Zeit für diesen Geschichtskurs gewesen.
    In den frühen Tagen seiner Ehe, als er die Welt seiner Frau noch kaum kannte, hatte er von ruhigen Abenden daheim geträumt, an denen Pauline lehrreiche Bücher vorlas, während er am Kamin saß und in einem stillen Gehirnwinkel Gerichtsunterlagen durchging. Aber Pauline hatte nie erlebt, dass irgendjemand – abgesehen von Kindern, denen man damit über ihren kindlichen Kummer hinweghalf – etwas vorgelesen haben wollte. Sie wertete diesen Wunsch als Krankheitssymptom und befand, dass Dexter «wachgerüttelt» werden und sie mehr tun müsse, um ihn zu unterhalten. Sobald sie nach Nonas Geburt dazu in der Lage war, rüstete sie sich zu dieser neuen Pflicht, und von jenem Tag an war Manfords Leben außerhalb der Bürostunden fast unaufhörlich von gesellschaftlichen Aktivitäten geprägt. Anfangs hatte ihn das ständige Ausgehen verwirrt, dann eine Weile amüsiert und ihm geschmeichelt, dann war es allmählich zu einer wohltuenden Routine geworden, einer Art harmlosen Droge nach der enormen Anspannung der Arbeitsstunden, aber in letzter Zeit empfand er es einfach als lästig, als Verpflichtung, an der man festhalten musste, weil Pauline – wie er endlich erkannt hatte – nicht ohne all das leben konnte. Nach zwanzig Ehejahren verwendete er seinen Scharfsinn zum ersten Mal auf seine Frau.
    Der Gedanke an Pauline ließ ihn einen Blick auf die Uhr werfen. Sie würde jeden Augenblick kommen. Er hob erneut den Hörer ab und nannte ungeduldig dieselbe Nummer wie eben. «Nicht da, sagen Sie? Immer noch nicht?» (Dieselbe dumme Stimme gab dieselbe dumme Antwort!) «Ach, nein, macht nichts. Ich sage, es macht nichts », schrie er fast und legte den Hörer wieder auf. Diese idiotischen Dienstbote n …!
    Miss Vollard, die leicht zu beeindruckende Schreibkraft, streckte kurz ihren Bubikopf durch die Tür, sagte mit einem missgünstigen Seufzer zu jemandem draußen: «Geht in Ordnung», und verschwand rasch, als die Ehefrau ihres Chefs schwungvoll eintrat. Manford erhob sich.
    «So, meine Liebe.» Er schob einen Sessel vor den Kamin, fürsorglich und wie stets ein wenig eingeschüchtert von ihrer Gegenwart – von der schönen Mrs Wyant, die ihn zu heiraten geruht hatte. Pauline warf ihren Pelzmantel ab und musterte den Raum mit einem raschen Hausfrauenblick. Ihr Parfüm erinnerte ihn immer an ein besseres Desinfektionsmittel; in wenigen Sekunden würde sie einen Vorwand finden, um sich mit einer behandschuhten Fingerspitze zu vergewissern, dass auf Schreibtisch oder Kaminsims kein Staub lag. Als er in sein neues Büro zog, hätte sie ihn beinahe gezwungen, konkave Fußbodenleisten anzubringen, wie in einem Krankenhaus oder einem hygienisch besonders einwandfreien Kinderzimmer. Begeistert hatte sie die Idee von den konkaven Fliesen aufgegriffen, maßgearbeitet für jede Krümmung und jeden Winkel, sodass es keine Ecken mehr gab, wo sich Staub ablagern konnte. So wünschte man sich das Leben der Menschen, ohne Ecken. Sie wollte das Leben entbakterisieren.
    Aber als es um sein Büro ging, hatte sich Manford gesträubt, und inzwischen war diese Marotte wie so manche andere auf dem Müll gelandet.
    «Nicht zu nah ans Feuer.» Pauline schob ihren Sessel zurück und blickte nach oben, um zu sehen, ob der Deckenventilator lief. «Du lüftest doch regelmäßig? Darauf kommt es vor allem an, und auf das Lenken der Gedanken. ‹Geistiges Atemholen› nennt es der Mahatma.» Sie lächelte beschwörend. «Du siehst müde aus, Dexter, müde und abgespannt.»
    «Ach, Quatsch! Eine Zigarette?»
    Sie schüttelte den kleinen, willensstarken Kopf. «Du vergisst, dass er mich auch davon geheilt hat, der Mahatma. Dexter», rief sie plötzlich, «bestimmt ist es diese dumme Geschichte mit den Grant Lindons, die dich quält. Ich möchte mit dir darüber reden, es mit dir klären. Es kommt nicht in Frage, dass du dich in die Sache verwickeln lässt.»
    Manford war zu seinem Schreibtischstuhl zurückgegangen. Aus Gewohnheit fühlte er sich dort wohler, mehr Herr seiner selbst. Pauline, die auf dem Stuhl gegenüber im vollen Licht saß, schien ihm nun weiter nichts zu sein als eine Klientin, die um Rat fragte, oder ein Gegner, der überredet werden musste. Er wusste, dass auch sie den Unterschied spürte. Bisher war es ihm gelungen, seine berufliche Intimsphäre und berufliche Souveränität zu wahren. Was er in der Kanzlei tat, war für seine Familie von

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