Dämmerschlaf - Roman
und die würde sie bestimmt nur ungern aufgeben.
In den Gesprächspausen schweifte Nonas Blick durch den Raum, blieb an Jims gutmütigem, versonnenem Gesicht hängen – Jim blickte immer versonnen bei den Banketts seiner Mutter – und huschte weiter zu Aggie Heustons kleiner, präzise gezeichneter Maske, an der alles schmal und senkrecht war, wie beim Gesicht einer Heiligen, die man in einer Kathedrale in eine Nische gequetscht hat. Aber die Augen des Mädchens ruhten nur kurz auf Aggie, denn als sie sie ansah, fing sie plötzlich deren starren Blick auf. Aggie hatte sie heimlich gemustert, und das jagte Nona einen leichten Schrecken ein. Einen Augenblick später wandte sich Mrs Heuston an Parker Greg, den interessanten jungen Sozialreformer, den Pauline in der optimistischen Annahme, alle Weltverbesserer empfänden Sympathie füreinander, neben sie gesetzt hatte. Nona, die Parker Gregs Ansichten kannte, musste auch darüber lächeln. Aggie fühlte sich mit ihrem anderen Tischnachbarn, Mr Herman Toy, bestimmt viel wohler. Dieser dachte über alles genauso wie alle anderen Kapitalisten.
Nona fing Stan Heustons Lächeln auf und wusste, er hatte erraten, was in ihr vorging; aber auch von ihm wandte sie sich ab. Das war das Letzte, was sie wollte: dass er ahnte, was sie wirklich über seine Frau dachte. Tief drinnen in Nona gab es etwas, was sie immer wenn es ernst wurde, den schwierigeren Weg wählen ließ.
Manford hörte geistesabwesend erst der einen, dann der anderen Tischdame zu. Mit ihrer klanglosen, unrhythmischen Stimme, die sich anhörte wie lauwarmes Wasser, das in eine Badewanne läuft, sagte Mrs Toy: «Ich begreife nicht, wie jemand in einem Haus ohne Lift leben kann! Aber vielleicht kommt das daher, weil ich es nie musste. Vaters Haus hatte den ersten elektrischen Lift in Climax. In England haben wir einmal den Herzog von Humber auf Humber Castle besucht – es war einer dieser Riesenempfänge mit königlichen Hoheiten und so weiter, Golf und Polo den ganzen Tag und jeden Abend ein Ball, und ob Sie’s glauben oder nicht, wir mussten alle Treppen zu Fuß gehen ! Ich weiß nicht, aus welchem Holz diese Engländer geschnitzt sind. Die kennen das gar nicht, was wir Komfort nennen. Am zweiten Tag sagte ich zu Herman, ich halte das nicht mehr aus, diese schrecklichen glatten Treppen nach zwei Runden Golf und dem Tanzen bis vier Uhr früh. Das ruiniert mein Herz – der Arzt hat mich mehrmals warnend darauf hingewiesen! Ich wollte sofort abreisen, aber Herman meinte, das würde den Herzog kränken. Ein sehr netter alter Herr, der Herzog. Trotzdem habe ich erst eingewilligt zu bleiben, als Herman mir eine mit Saphiren und Smaragden besetzte Agraffe 29 von Cartier versprochen hat.»
Das kleine Frettchengesicht der Marchesa mit den wachsamen, flammenden Augen schnellte klatschsüchtig nach vorn. «Der Herzog von Humber? Den kenne ich gut . So ein lieber alter Herr! Ach, Sie waren also auch auf Humber? Er lädt mich so oft ein. Wir sind verwand t … ja, durch seine erste Frau, deren Mutter eine Venturini aus der kalabrischen Linie war, Donna Ottaviana. Ja. Eine andere Schwester, Donna Rosmunda, die Zierde der Familie, heiratete den Herzog von Lepanto, einen mediatisierten 30 Fürsten.»
Sie hielt inne, und Manford las in ihren Augen die hektische stumme Frage: «Ob sie diesen Ausdruck wohl seltsam finden? Ich weiß ja selbst nicht genau, was ‹mediatisiert› bedeutet. Und diese Amerikaner! Sie haben keinerlei Skrupel und sind doch ständig empört.» Laut fuhr sie fort: «Ein mediatisierter Fürst, aber ein Mann von allergrößter Charakterstärke.»
«Oh», murmelte Mrs Toy verwirrt, wenn auch sichtlich erleichtert.
Manfords an ihren Vertäuungen zerrende Aufmerksamkeit hatte sich wieder losgerissen und war auf und davon gesegelt. Das wievielte Dinner war das in diesem Winter? Und kein Ende in Sicht! Wie hielt Pauline das aus? Warum wollte sie es überhaupt aushalten? All diese Ruhekuren, Massagen und rhythmischen Übungen, ersonnen, um Menschen zu kurieren, die kerngesund wären, wenn sie nur ein normales Leben führen würden! Wie diese Närrin neben ihm, die vergeblich ihren blonden Charme versprühte und keine Treppe steigen konnte, weil sie die ganze Nacht getanzt hatte! Pauline war genauso: Nie ging sie eine Treppe zu Fuß, und dann brauchte sie Gymnastik und Osteopathie und weise Hindus, damit ihre Muskeln nicht verkümmerte n … Er sah seine Mutter vor sich, draußen auf der Farm in Minnesota,
Weitere Kostenlose Bücher