Dämmerschlaf - Roman
die Entscheidung abnehmen. Ich habe heute Nachmittag zu tun, und du sicher auc h …»
Sie schob sich tiefer in ihren Sessel. «Für dich habe ich immer Zeit, Dexter.»
«Vielen Dank, meine Liebe. Aber die Zeit, die ich mir von dir erbitte, liegt außerhalb der Bürostunden», versetzte er mit einem leichten Lächeln.
«Dann bin ich also entlassen?» Sie lächelte zurück. «Ich verstehe; du brauchst nicht zu läuten!» Sie erhob sich mit wiedergewonnener Gelassenheit und legte ihm leicht die Hand auf die Schulter. «Tut mir leid, dass ich dich belästigt habe. Das kommt ja nicht oft vor, nicht wahr? Ich bitte dich nur, die Sache noch einmal zu überdenke n …»
Er führte ihre Hand an seine Lippen. «Natürlich, natürlich.» Jetzt, wo sie ging, konnte er das sagen.
«Du hast mir also verziehen?»
Er lächelte. «Ich habe dir verziehen.»
Und von der Tür aus rief sie ihm fast fröhlich zu: «Vergiss nicht heute Abend! Amalasuntha!»
Seine Stirn umwölkte sich, als er zu seinem Stuhl zurückging, und merkwürdig – er war sich dieser Merkwürdigkeit bewusst –, sie umwölkte sich nicht wegen des soeben überstandenen unangenehmen Auftritts, sondern wegen der Ermahnung seiner Frau. «Hol der Teufel dieses Dinner!», fluchte er vor sich hin.
Er griff zum Telefon, hob zum dritten Mal ab und verlangte wieder dieselbe Nummer.
Als Dexter Manford am Abend den Schlüssel in die Haustür steckte, spürte er die Last all dessen, was sich dahinter verbarg. Nie betrat er sein Haus, ohne sich kurz bewusst zu werden, wie wichtig dieser Moment war – nie nahm er das hallende Vestibül als selbstverständlich hin, die große Diele mit der Marmortreppe, die sich zu Licht, Wärme und Luxus emporschwang, zu allem, was Kunstfertigkeit ersinnen, Geld kaufen und Paulines Geschicklichkeit zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen konnte. Nie hatte er den Tag vergessen, als er nach seinem ersten Erfolg vor Gericht im Haus seiner Mutter in Delos ein Badezimmer einbauen ließ und die Nachbarn über viele Meilen angereist kamen, um es zu besichtigen.
Aber Luxus und erst recht Bequemlichkeit waren für ihn nie ausschlaggebend gewesen; er hatte zu viel zu tun, um sich darüber groß Gedanken zu machen, und war von sich und seinen Fähigkeiten so überzeugt, dass er fand, all das stehe ihm zu. Es war nicht die Pracht seines Hauses, die ihn bedrückte, sondern das Gefühl der damit verbundenen Verpflichtungen. Es erschien ihm als Teil eines wohldurchdachten gesellschaftlichen und familiären Gefüges, so verblüffend raffiniert konstruiert wie gewisse Vogelnester, die er von Abbildungen kannte. Seine Karriere, Paulines mannigfaltige Betätigungen, das Problem mit dem armen Arthur Wyant, Nona, Jim, Lita Wyant, der Mahatma, die lästigen Grant Lindons und alle Jahre wieder die unvermeidliche Amalasuntha, für die das Haus heute Abend festlich beleuchtet war – sie alle waren Fäden im Flor des Teppichs, auf dem er die Treppe hochstieg. Als er am Esszimmer vorbeikam, sah er durch die halb offenen Türen das Glitzern von Glas und Silber, sah einen Mann im kurzärmligen Hemd, der Schalen mit Rosen auf den langen Tisch stellte, und Maisie Bruss, die Powder, dem englischen Butler, blass, aber unverzagt Tischkarten aushändigte.
6
Pauline Manford warf einen zufriedenen Blick auf die Tafel.
Es waren solche Anlässe, die sie sichtbar für all ihre Mühe entschädigten. Niemand in New York hatte eine so tüchtige Köchin, ein so perfekt eingespieltes Servierpersonal, eine so gedämpft und doch strahlend beleuchtete Tafel oder ein solches Geschick, Gäste darum zu gruppieren, die nicht nur ausnehmend reich oder tonangebend waren, sondern wahrscheinlich auch noch Gefallen aneinander fanden.
Die intime Runde nach dem Motto «Auch die Musen waren nur zu neunt» war nicht Paulines Sache. Sie wusste dies und versuchte sich nur selten daran – und wenn sie es tat, ließ sie ihr Misserfolg stets ratlos zurück. Wenn es dagegen um die Organisation und den Ablauf eines großen Dinners ging, war sie sich ihrer Meisterschaft gewiss. Keines stumpfsinnigen großen Dinners wie in früheren Zeiten, als die «gekrönten Häupter» wie eine gesonderte Kaste behandelt und unablässig in der gleichen Konstellation eingeladen wurden, eine ganze eintönige Saison lang. Dazu war Pauline zu modern. Ihre Stärke war eine wohlüberlegte Mischung aus Wall Street und Boheme, und ihre besondere Kunst bestand in der Auswahl der Letzteren. Natürlich gab es solche
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