Dämmerschlaf - Roman
fahre im nächsten Monat, wenn Dexter zum Tarpunfischen geht, nach Dawnside zu einer Ruhekur. Der Mahatma ist haushoch über dieses Geschwätz erhaben – um die Lindons ist mir bange, nicht um ihn.»
Die Zeitschrift, die Wyant beiseitegeworfen hatte, war auf den Boden gefallen, zuoberst ein ganzseitiges Foto – das Foto. Auf dem Weg nach draußen gab Pauline, ohne lange zu überlegen, ihrem Ordnungstrieb nach und bückte sich, um das Heft aufzuheben; bückte sich und sah. Sie hatte noch immer gute Augen; sie überflogen die beunruhigende Bildunterschrift «Frühlingserwachen in Dawnside», machten in der herumtollenden Runde sofort Bee Lindon ausfindig und wanderten verblüfft weiter zu einer anderen nackten Nymph e … deren Gesicht, deren Bewegunge n … unfasslich! Eine Sekunde lang weigerte sich Pauline zu glauben, was ihre Augen ihr meldeten. Angewidert und zermürbt schlug sie die Zeitschrift zu und legte sie auf einen Tisch.
«Ach, bemüh dich nicht wegen der Zeitschrift. Tut mir leid, dass dich niemand hinausbegleiten kann!», hörte sie Wyant rufen. Sie ging die Treppe hinunter, blind und zweifelnd und wusste später kaum noch, wie sie in ihr Auto gekommen war.
Nur noch wenig Zeit, heimzufahren, sich umzuziehen, dann den Vorsitz zu übernehmen und die Rede vor sich aufs Pult zu legen, während schon in Scharen die Mütter eintrafe n …
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So, vielleicht verstand Dexter jetzt, warum man die Grant Lindons zum Schweigen bringen musst e … Das Bild konnte natürlich eine Fälschung sein – Pauline wusste, dass sich so etwas aus Fotografien ohne jeglichen Bezug zum Gezeigten zusammenstückeln ließ. Womöglich hatte man den Kreis der Tänzerinnen geschickt in den Patio von Dawnside hineinmontiert, und weiß der Himmel, welche schamlosen Geschöpfe sich für die tanzenden Körper zur Verfügung gestellt hatten. Dexter hatte ihr oft genug erzählt, dass das ein weit verbreiteter Erpressertrick war.
Doch selbst wenn das Foto echt war, empfand Pauline Verständnis und Nachsicht. Sie selbst hatte in Dawnside nie etwas Derartiges gesehen – Gott behüte! –, aber wenn sie dort einen Vortrag oder einen Gymnastikkurs besucht hatte, war ihr stets der Verdacht gekommen, dass der kahle, gekalkte Raum mit seinem thronenden Buddha, in dem man sie und andere gleichgesinnte, gleichaltrige Damen empfing, alle tatkräftig und ernsthaft um Weiterbildung bemüht, nicht allzu viel von Dawnsides Geheimnis preisgegeben hatte. Jenseits davon gab es vielleicht noch andere Zeremonien, andere Schauplätze – warum nicht? Hieß es nicht überall «Zurück zur Natur», und machte sich nicht jedermann lustig über die amerikanische Prüderie, mit der ihre Generation körperlich und geistig gegängelt worden war? Der Mahatma war einer der Führer der neuen Bewegung, «Rückkehr zur Reinheit» nannte er sie. Er sang das Hohelied von der Würde des menschlichen Körpers, pries die Bequemlichkeit der lockeren orientalischen Gewänder im Vergleich zur einengenden westlichen Kleidung, aber Pauline hatte doch angenommen, dass die von ihm befürworteten Tücher etwas länger und weniger durchsichtig waren; vor allem hatte sie nicht mit bekannten Gesichtern über diesen kurzen Tüchern gerechne t …
Sie war vor ihrem Haus angekommen. Es blieb gerade noch Zeit, sich für die Mütter zurechtzumachen, doch keine Zeit mehr, um Dexter anzurufen, die gesamte Auflage des «Looker-on» aufzukaufen (ein fantastischer Gedanke!) oder zu versuchen, des Redakteurs habhaft zu werden, der einmal bei ihr gespeist hatte und eigentlich mit Lita befreundet war. Alles Mögliche und Unmögliche schoss ihr zu dem irrwitzigen Refrain «zu spät, zu spät» durch den Kopf, während sie aus ihrem Straßenkleid schlüpfte und sich, zuckend vor Ungeduld, von ihrem Mädchen das zerdrückte Haar frisieren ließ. Das Kleid für die Sitzung – im Unterschied zu dem Kleid für das Geburtenregelungskomitee prächtig, matronenhaft und ein ganz klein wenig altmodisch – lag ausgebreitet neben dem Text ihrer Rede, und Maisie Bruss, die sich in Rufweite gehalten hatte, kam atemlos von einem Blick über das Treppengeländer zurückgeflitzt.
«Sie kommen!»
«O Maisie, laufen Sie hinunter! Sagen Sie, ich telefoniere noch!» Ihre unheilbare Aufrichtigkeit zwang sie, den Hörer abzuheben und die Nummer von Manfords Kanzlei zu wählen. Augenblicklich hatte sie ihn am Apparat. «Dexter, diese Mahatma-Untersuchung muss verhindert werden! Frag mich nicht, warum – ich habe
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