Dämmerschlaf - Roman
Dank hatte sie jetzt eine Stunde frei! Sie warf sich auf ihr Sofa und wandte den Blick nach innen, eine Übung, zu der sie selten Zeit fand.
Jetzt, wo sie sich in Sicherheit wusste und sich und der Sache nicht geschadet hatte, konnte sie ein paar Zoll tiefer in die Beweggründe ihres Tuns eindringen, und was sie dort sah, erschreckte sie. Vorsitzende der Muttertagsgesellschaft und Rednerin auf dem Geburtenregelungsbankett! Es brauchte nicht das leise, spöttische Lachen ihrer Tochter, um ihr das Maß ihrer Inkonsequenz vor Augen zu führen. Dennoch war es ihr bisher leicht erschienen, diesen Widerspruch zu überbrücken, ebenso leicht, wie zum Empfang von Amalasunthas Kardinal auch den Oberrabbiner und den Bischof von New York einzuladen. Predigte nicht der Mahatma, dass sich für den Eingeweihten alle Zwietracht in eine höhere Harmonie auflöste? Wenn ihr für Sekunden zu Bewusstsein gekommen war, wie scheinbar unvereinbar der Appell zum Kinderkriegen mit der Unterweisung war, dies einzuschränken, hatte ihr bisher immer die Antwort genügt, die beiden angesprochenen Bevölkerungsgruppen seien völlig unterschiedlich und könnten nicht auf die gleiche Weise «erreicht» werden. In der Ethik wie in der Werbung ging es vor allem darum, das Publikum anzusprechen. Bisher hatte ihr dieses Argument genügt. In dem Bewusstsein, dass es zu beiden Standpunkten viel zu sagen gab, hatte sie sich mit gleichem Eifer auf die Verbreitung beider Lehren geworfen; aber als sie ihr Bemühen jetzt nüchternen Auges betrachtete, zweifelte sie an seiner Zweckdienlichkeit.
Maisie Bruss tauchte auf, in der Hand Notizen und Telefonnachrichten. Auch auf ihrem kleinen, zugeknöpften Gesicht schien sich dieser Zweifel widerzuspiegeln.
«Oh, Maisie! Gibt es etwas Wichtiges? Ich bin todmüde.» Dieses Eingeständnis machte sie nicht oft.
«Nicht viel. Drei oder vier Zeitungen haben angerufen und wollen Abschriften Ihrer Rede haben. Sie war ein großer Erfolg.»
Sanft glimmende Genugtuung durchflackerte Paulines Verstörtheit. Sie gab nicht vor, besonders eloquent zu sein; sie wusste, ihre Kinder belächelten ihren Satzbau. Doch sie hatte die Herzen ihrer Zuhörerinnen erreicht, und wer wollte leugnen, dass das ein Erfolg war? «Ach, Maisie, ich glaube nicht, dass sie gut genug ist, um gedruckt zu werde n …»
Die Sekretärin lächelte, machte eine stenografische Notiz und fuhr fort: «Die Marchesa hat angerufen, dass ihr Sohn am Mittwoch an Bord geht, und ihr Telegramm bezüglich des Kardinals habe ich abgeschickt, mit bezahlter Rückantwort.»
«Am Mittwoch an Bor d …? Aber das geht nicht, das ist ja schon übermorgen!» Beunruhigt richtete sich Pauline auf, gestützt auf einen zittrigen Ellbogen. Sie hatte ihren Mann gewarnt, aber er wollte nicht hören. «Rufen Sie bitte unten an, Maisie, ob Mr Manford schon heimgekommen ist.» Doch sie wusste genau, wie die Antwort lauten würde. Wenn es etwas Schwerwiegendes zu besprechen gab, fand Dexter mittlerweile immer eine Entschuldigung, um ihr aus dem Weg zu gehen. Sie legte sich wieder hin, die Lider über den müden Augen geschlossen, und wartete auf die Nachricht: «Mr Manford ist noch nicht da.»
Irgendetwas stimmte in letzter Zeit nicht mit Dexter. Das ließ sich nicht ignorieren, und wenn sie die Augen noch so fest verschloss. Vermutlich war er überarbeitet – der übliche Grund. Wenn reiche Männer zu Hause mürrisch und schwierig wurden, erklärten ihre Ärzte immer, sie seien überarbeitet.
«Dinner bei den Toys um halb neun.» Miss Bruss fuhr mit ihrer Auflistung fort, und Pauline verzog den Mund zu einem etwas bitteren Lächeln. Bei den Toys, das würde er nicht vergessen! Immer wenn ihm eine Frau gefie l … ach, sogar Lit a … Einmal hatte sie ihn in heller Aufregung erlebt, als er mit Lita ins Kino gehen wollte und dachte, sie hätte vergessen, ihn abzuholen! Mit der Uhr in der Hand war er hin- und hergestapf t … Nun ja, das war wohl typisch für diese mittleren Lebensjahre, das ging vorüber. Nach zwanzig Jahren seiner hingebungsvollen Liebe konnte sie es sich leisten, großzügig zu sein, und ebendies gedachte sie zu sein. Männer alterten nicht so würdevoll wie Frauen. Sie verstand genug davon, um nicht wegen kleiner Flirts an ihm herumzunörgeln, und in Wirklichkeit war sie geradezu dankbar, dass diese alberne Gladys Toy so viel Aufhebens von ihm machte.
Doch wenn es um ernste Dinge ging, wie in diesem Fall mit dem Mahatma, war es etwas anderes. Dexter war es
Weitere Kostenlose Bücher