Dämmerschlaf - Roman
keine Zeit. Versprich mir nu r …»
Sie hörte sein ungehaltenes Lachen.
«Nein?»
«Unmöglich», kam es zurück.
Vermutlich hatte sie den Hörer aufgelegt, ihr juwelenbesetztes Mutterschaftsabzeichen angesteckt und wie immer die Ringe und Armreifen übergestreift. Aber sie erinnerte sich an nichts mehr, als sie sich schließlich auf dem Podest am Ende des voll besetzten Ballsaals wiederfand und ihr Blick auf zahllose Reihen ernster, vertrauensvoller Gesichter fiel, deren Münder und Augen bereit waren, bewundernd ihre «Botschaft» entgegenzunehmen. Sie galt als sehr gute Rednerin; sie wusste, wie man den Typus Frau erreicht, den diese eindrucksvolle Versammlung vertrat: Abgesandte aus Kleinstädten im ganzen Land, geeint durch den gemeinsamen Glauben an das uneingeschränkt Gute im Menschen und die unbegrenzten Möglichkeiten der amerikanischen Hygiene. Die moralische Hausbackenheit ihrer eigenen Erziehung verband sie mit diesen Frauen, die in Scharen in die große, gefährliche Stadt geeilt waren, gänzlich unbedarft und nicht ahnend, dass diese Metropole noch viel mehr oder etwas ganz anderes war als nur der riesige Versammlungsort für einen Mütterkongress. Pauline sah in solchen Stunden die Welt mit den Augen der Mütter und war beseelt von echter Begeisterung für die Sache der Mutterschaft und Häuslichkeit.
Als sie sich ihrem Publikum zuwandte, überkam sie ein Gefühl trügerischer Gelassenheit. Sie meinte, sich und die Situation unter Kontrolle zu haben. Sie sprach.
«Individualität – an erster und letzter Stelle und um jeden Preis. Ich beginne meine Rede mit diesem Begriff, weil er mir stellvertretend für unsere ganze Sache zu stehen scheint. Individualität und Platz, sie auszuleben, nicht nur ein wenig Spielraum, sondern auch Arbeits-Raum und Denk-Raum, viel Raum für beides. Darauf hat jedes menschliche Wesen ein Recht. Schluss mit den im Schatten lebenden Ehefrauen, Schluss mit den schuftenden Müttern, den Menschensklaven, die vom ewigen Kreislauf aus Haushalt und Kindergebären zermalmt werde n …»
Sie hielt inne, holte rasch Atem, begegnete über Reihen von verwirrten Brillen hinweg Nonas verdutztem Blick und fühlte, wie sie in einen Abgrund rutschte. Im letzten Moment fand sie Halt und verhinderte ihren endgültigen Abstur z …
«… das fordern unsere Gegner, die Frauen, die Angst davor haben, Mutter zu werden, die sich schämen, Mutter zu sein, die Frauen, die ihr Vergnügen, ihre Bequemlichkeit und ihr sogenanntes Glück über die geheimnisvolle, vom Himmel gesandte Freude des herrlichen Vorrechts stellen, Kinder in die Welt zu setze n …»
Beifälliges Klatschen von den beruhigten Müttern. Sie hatte es geschafft! Sie hatte die nackte Katastrophe zu einem Erfolg umgebogen. Nur ihr sicherer Instinkt für Rettungsmaßnahmen hatte sie befähigt, die ersten Sätze jener anderen Rede, der Geburtenregelungsansprache, für die kühne Eröffnungssequenz ihrer Hymne an die Mutterschaft auszugeben, bevor es zu spät war! Sie schwieg einen Augenblick, insgeheim noch immer außer Atem, doch schon wieder selbstsicher genug, um Nona über das arglose Auditorium hinweg zuzulächeln, selbstsicher genug, um festzustellen, dass sie mit ihrer paradoxen Eröffnung eine viel größere Wirkung erzielt hatte, als sie sie mit den ursprünglich geplanten Sätzen hervorzurufen hatte erhoffen dürfen. Gut zu wissen für künftige Reden!
Nur – die versteckte Nervosität blieb bestehen. Die Erkenntnis, dass sie nicht nur ihre Selbstbeherrschung, sondern auch ihr Gedächtnis verlieren konnte, sogar das Gespür dafür, was sie sagte, glich einer eisigen Hand, die sie auf rätselhafte Weise warnte.
Nervosität, Ermüdung, geistige Erschöpfung – war ihr Kampf dagegen vergeblich gewesen? Was nutzten all die Monate und Jahre geduldigen taylorisierten 38 Einsatzes gegen das naturgegebene menschliche Schicksal, gegen Angst, Sorge und Alter, wenn sie wieder zur Bedrohung wurden, sobald sich ein Ereignis ihrer Kontrolle entzog?
Die Rede endete unter Applaus und bewundernden Zurufen. Sie hatte sich einen Weg zu diesen vertrauensseligen Herzen gebahnt, die entweder selbst auf ein hartes, mühsames Leben zurückblickten oder in denen sich zäh die überlieferte Erinnerung daran hielt – allen Automobilen, Wertpapieren und ultramodernen Badezimmern zum Trotz.
Nachdem sich die Mütter zerstreut hatten, war Pauline in ihr Zimmer gegangen, noch immer benommen von ihrer Rettung in letzter Minute. Gott sei
Weitere Kostenlose Bücher