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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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sie das «Stille Meditieren» ausgelassen, aber jetzt war sie nicht in der Stimmung dazu. «Und außerdem ist eine Stunde zu lang zum Meditieren – eine Stunde ist für alles zu lang.» Zum ersten Mal seit Jahren hatte sie eine Stunde für sich, und ihr war schleierhaft, was sie damit anfangen sollte. Niemand war je auf den Gedanken gekommen, ihr das beizubringen, und bei dem Gefühl, plötzlich ringsum von Leere umgeben zu sein, in der ihr kein Termin, keine Verabredung Halt bot, überkam sie eine Art geistig-seelischer Schwindel. Natürlich hatte sie schon viele Ruhekuren absolviert, wie alle ihre Freundinnen. Aber bei einer Ruhekur war man immer damit beschäftigt, zu ruhen, jede Minute war ausgefüllt mit der Tätigkeit, untätig zu sein, nie hatte man dieses komische Gefühl, ohne Aufgabe zu sein, niemals musste man einer völlig unstrukturierten Zeitspanne die Stirn bieten. Ihr war dann regelmäßig, als sei die Welt an ihr vorbeigerast und hätte sie vergessen. Eine Stunde – ach, wer konnte schon die Länge einer leeren Stunde ermessen! Sie erstreckte sich in die Ewigkeit wie die endlose Straße in einem Albtraum, sie gähnte ihr entgegen wie die schlüpfrigen Wände eines Abgrunds. Nervös begann sie sich zu fragen, womit sie die Zeit füllen sollte – gab es nicht einen neuen Film, eine Modenschau oder eine Hygieneausstellung, die sie dazwischenschieben konnte, bis der Minutenzeiger zu ihrem nächsten Termin weitergerückt war? Sie griff nach ihrer Liste, um zu sehen, was das für ein Termin war.
    «11.45 Uhr, Mrs Swoffer»
    Ah, natürlic h … Mrs Swoffer. Maisie hatte sie heute früh daran erinnert. Sofort spürte sie eine gewisse Erleichterung. Nur, wer war Mrs Swoffer? Die Präsidentin der Militanten Pazifistenliga, die Delegierte des Heldengedenktags, die Repräsentantin der Neuen Religion der Hoffnung oder die Frau, die entdeckt hatte, mit welchem wunderbaren Kunstgriff man die Fältchen in den Augenwinkeln loswird? Maisie war in einer dringenden Angelegenheit außer Haus und konnte keine Auskunft geben; aber was immer Mrs Swoffers Anliegen war – sie war willkommen, vor allem wenn sie zu früh kam. Und sie kam zu früh.
    Sie war eine kleine, mollige Frau unbestimmten Alters mit ausgebleichtem blondem Haar und zerfließenden Gesichtszügen, die von einer vorwitzigen Brille zusammengehalten wurden. Sie fragte, ob sie Paulines Hand einen Augenblick lang halten dürfe, während sie ihr ins Gesicht blicke und ihrer Verehrung Ausdruck verleihe – und als Pauline hörte, dass dies auf die in der Morgenzeitung abgedruckte Muttertagsrede zurückzuführen war, ließ sie es nicht ungern geschehen.
    Nicht dass Mrs Swoffer deswegen gekommen war; sie sagte, das sei nur eine Blume, die sie am Wegesrand pflücken wolle. Eine betaute Rose – sie nahm die Brille ab und wischte darüber, als wolle sie zeigen, wo der Tau herkam. «Sie sprechen für so viele von uns», hauchte sie und drückte Paulines Hand ein zweites Mal.
    Aber eigentlich sei sie wegen der Kinder gekommen, und das heiße in Wirklichkeit wegen der Mütter, nicht wahr? Nur dass sie die Mütter über die Kinder erreichen wolle – umgekehrt als sonst üblich. Mrs Swoffer war der Ansicht, dass sich fast alles umkehren lasse. Der Kopfstand stärke den Körper wie nur wenige andere Übungen, und auf Geist und Moral treffe dies ebenso zu. Ein seelischer Kopfstand sei sehr wohltuend. Und so sei sie wegen der Kinder gekomme n …
    Sie habe sich zum Ziel gesetzt, eine Liga zu gründen – eine riesige Internationale Liga der Mütter gegen die furchtbare alte Angewohnheit, den Kindern zu sagen, sie seien ungezogen. Habe Mrs Manford jemals innegehalten und darüber nachgedacht, wie abscheulich es sei, einem reinen, unschuldigen Kind einzureden, dass es auf Erden so etwas wie Ungezogenheit gebe? Wem öffne das Tür und Tor? Genau, dem Gedanken der Schlechtigkeit, dem schrecklichsten Gedanken auf Erden.
    Natürlich werde Mrs Manford sofort erkennen, wozu es führe, wenn man sich von dem Gedanken der Schlechtigkeit befreie. Wie könne es schlechte Menschen geben, wenn es keine schlechten Kinder gab? Und schlechte Kinder könne es nicht geben, weil die Kinder gar nicht erst erführen, dass so etwas wie Schlechtigkeit existiere. Eine herrliche Frau namens Orba Clapp, Mrs Manford habe bestimmt schon von ihr gehört, rufe eine gigantische weltweite Bewegung ins Leben, um alle Fabrikanten und Verkäufer von Kriegsspielzeug, Zinnsoldaten, Kanonen, Spielzeuggewehren,

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