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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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verärgert Bee Lindon, tat dies mit einem Achselzucken ab, schaute noch einmal und schob seine Brille auf der Nase zurecht, um ganz sicherzugehen – da siegte des Juristen instinktives Bemühen um Genauigkeit über ein wildes inneres Beben.
    Er ging zur Tür, machte wieder kehrt und blieb unentschlossen stehen. Um das Bild genau zu studieren, hatte er den Volant des Lampenschirms hochgeschlagen, und nun fiel das Licht grell auf die Statue über Litas Sofa, jene Statue, über die Pauline zum Amüsement ihrer Kinder immer ein wenig besorgt äußerte, sie sei wohl kubistisch. Manford hatte die Figur bisher kaum wahrgenommen, hatte sich allenfalls einmal gefragt, warum junge Menschen etwas so Hässliches bewunderten. Halb verloren im Schatten der Nische, schien sie nicht mehr als ein Bündel plumper Glieder zu sein. Jetzt, im grellen Lich t … «O du Schwein, du!» Er ballte die Faust. «Das wollen sie, das ist ihr viehisches Idol!» Gestammelt, undeutlich vor Wut brachen die Worte aus ihm heraus. Es war wegen Ji m – die Erschütterung, die Erniedrigun g … Die Zeitung glitt zu Boden, und er ließ sich wieder in seinen Sessel fallen.
    Langsam überwand sein Verstand Abscheu und Bestürzung. Pauline hatte recht gehabt: Was konnte man von einem Mädchen erwarten, das im Hause Landish aufgezogen worden war? Wahrscheinlich war nie jemand auf den Gedanken gekommen, nachzufragen, wo sie sich aufhielt, wo sie gewesen war – Mrs Landish, gänzlich mit ihren eigenen Verrücktheiten beschäftigt, war bestimmt die Letzte, die es erfuhr.
    Aber was hieß das schon? Ein modernes Mädchen war immer frei, wiewohl man erwartete, dass es mit seiner Freiheit umzugehen verstand. Nonas Unabhängigkeit war von ihnen ebenso vorbehaltlos respektiert worden wie die von Jim; sie hatte wie er an den allgegenwärtigen Sensationen der modernen Zeit teilgehabt. Doch Nona war wie ein Fels in der Brandung, auf sie konnte das Herz eines Mannes bauen. Wenn eine Frau von Natur aus anständig war, konnten ihr Jazz und Nachtclubs nichts anhaben.
    Freilich, in Nonas Fall war es Paulines Einfluss gewesen – Pauline, die ihre Fehler haben mochte, den Kindern gegenüber jedoch stets heiter gewesen war und sich meist klug verhalten hatte. Das zeigte sich darin, dass Jim und Nona zwar über sie lachten, sie aber dennoch innig liebten; das musste er gerechterweise zugeben. Bei dem Gedanken an Pauline durchwehte ihn ein Hauch von Frische und Ehrlichkeit. Er war in letzter Zeit ihr gegenüber unfair gewesen, krittelig, gereizt. Er hatte ein langsam wirkendes Gift in sich aufgesaugt, das Gift, das dieser dunkle, selbstverliebte Raum verströmte, und nun bekam er die verderblichen Auswirkungen zu spüren. Sein Eindruck von damals, als er Lita hässlich und angeberisch gefunden hatte, stellte sich schlagartig wieder ein und zerstörte den Zauber.
    «Oh, wie schön, dass du gewartet has t …» Da stand sie vor ihm, das kleine, herzförmige Gesicht tief im Pelz vergraben wie ein Vogel im Nest. «Ich wollte dich heute unbedingt sehen, ich habe dich mit der Kraft meines Willens gezwungen zu warten.» Sie stand da, den Kopf leicht zur Seite geneigt, und ließ ihren Blick durch die halb geschlossenen Lider tröpfeln wie eine kostbare goldene Flüssigkeit.
    Manford starrte zurück. Bei ihrem Eintreten blieben ihm die Worte im Hals stecken: Er stand vor ihr, und Anklage und Beschimpfungen schnürten ihm die Kehle zu. Und dann wurde ihm bewusst, wie viel einfacher es wäre, nichts zu sagen und einfach zu gehen. Natürlich wollte er gehen. Es war nicht sein Problem; Jim Wyant war nicht sein Sohn. Gott sei Dank konnte er sich aus dieser ganzen Sache heraushalten. Er murmelte: «Sind zum Essen eingeladen. Kann nicht warten.»
    «Oh, aber du musst!» Ihre Hand, leicht wie ein Blütenblatt, ruhte auf seinem Arm. «Ich möchte es.» Er sah nur das Aufblitzen von kleinen, runden Zähnen, als sich ihre Oberlippe ho b …
    «Ich kann nich t … kann nicht.» Er versuchte, seine Stimme zu befreien, als wäre auch sie stecken geblieben.
    Er zog sich zurück in Richtung Tür. Der «Looker-on» lag zwischen ihnen auf dem Boden. Umso besser, dann fand sie ihn, wenn er fort war! Dann würde sie verstehen, warum er nicht gewartet hatte. Und es war nicht zu befürchten, dass Jim das Blatt in die Hand bekam; sie ließ es garantiert verschwinden!
    «Was ist denn das?» Geschmeidig knickte sie auf halber Höhe ab, um es aufzuheben, und ging zur Lampe, das Gesicht im Licht. «Du Lieber, du

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