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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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empfing. So hätten auch die Wikinger gelebt. Doch heute war von den verschiedenen Betätigungen keine Spur zu sehen, und der Raum war spartanisch leer. Mrs Landishs neuestes Steckenpferd war der sogenannte «Purismus», der sich zum Ziel setzte, die gesamte Umgebung gemäß den Gewohnheiten und Gewerben einer mythischen Vergangenheit zu gestalten. Seit sie Viking Court ins Leben gerufen hatte, versuchte sie, Binsen für den Fußboden zu bekommen, aber weil in den Oststaaten von Amerika jene spezielle Sorte Binsen, wie sie die Wikinger angeblich benutzt hatten, nicht angebaut wurde, hatte sie sich schließlich dazu durchgerungen, handgewebte Teppiche aus Abessinien zu verwenden, denn irgendwer hatte ihr erzählt, in den Ruinen von Petra 42 sei eine Inschrift entdeckt worden, die auf Handelsbeziehungen zwischen den Wikingern und dem Königreich des Priesters Johannes schließen lasse.
    Da es sich als schwierig erwies, die Teppiche nach alten, originalgetreuen Mustern anzufertigen, blieb der Zementfußboden von Mrs Landishs Lebe-Raum ewig kahl, und jetzt, wo auch noch das meiste Mobiliar entfernt worden war, sah das Zimmer aus wie eine Garage, zumal Mrs Landishs neuester Schützling, ein junger Varietékünstler, der auf einer Motorsirene musizierte, in einer Ecke sein Fahrrad hatte unterstellen dürfen.
    Neben diesem Gefährt barg der Raum noch ein paar unverwüstlich wirkende Eichenstühle, einen langen Tisch mit einer Sanduhr (herkömmliche Uhren wären ein Anachronismus gewesen) und einen an die Betonwand genagelten verstaubten Samtfetzen, laut Mrs Landish ein Stückchen koptisches 43 Gewand aus dem sechsten Jahrhundert, das gerade von Basiliusnonnen aus Thessalien nachgewebt wurde, um daraus Vorhänge und Stuhlkissen zu nähen. «Das kann zwar noch fünfzig Jahre dauern», fügte Mrs Landish immer hinzu, «aber lieber verzichte ich ganz darauf, als mit etwas weniger Vollkommenem zu leben.»
    In dem leeren Raum, in den Pauline vordrang, hob sich deutlich die Gestalt eines Mannes ab, der mit dem Rücken zu ihr am Fenster stand und auf das hinaussah, was einmal ein Garten werden sollte, wenn dereinst die Gartenkunst der Wikinger wieder zum Leben erweckt wurde. Vorläufig vermehrten sich dort nur die Katzen aus der Nachbarschaft und Windhosen voller Müll.
    Der Besucher, eine dunkle Silhouette vor dem trüben Märzhimmel, war anfangs nicht zu erkennen, aber auf halbem Weg rief Pauline: «Dexter!»
    Er drehte sich um und war genauso überrascht wie sie.
    «Ich wäre nicht im Traum darauf gekommen, dass du das sein könntest!», rief sie.
    Er blickte sie mit einer Art trotziger Munterkeit an. «Warum nicht?»
    «Weil ich dich hier noch nie gesehen habe. Oft genug habe ich versucht, dich hierherzulotse n …»
    «Ja, zum Lunch oder zum Dinner!» Mit einer Grimasse blickte er sich um. «Dazu habe ich mich nicht verpflichtet gefühlt.»
    Sie ging nicht darauf ein, und einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Schließlich sagte Manford: «Ich bin wegen Lita hier.»
    Pauline verspürte jähe Erleichterung. Die Stimme ihres Mannes klang rau und ungehalten; sie merkte, dass ihr Erscheinen ihn rätselhafterweise aus der Fassung brachte. War der Grund für seinen Besuch die Angst um Lita, erklärte dies nicht nur seine Verwirrung, sondern bewies auch seine wiedererwachte Sorge um sie, Pauline. Noch einmal sandte sie dem Inspirationsheiler in Gedanken einen Segensspruch; es war so wundervoll, dass sie und Dexter denselben Impulsen folgten.
    «Das ist furchtbar nett von dir, mein Lieber. Wie sonderbar, dass wir uns hier mit demselben Anliegen treffen!»
    Er starrte sie an: «Wieso, bist d u …?»
    «Wegen Lita gekommen? Ja. Sie gerät allmählich außer Kontrolle, nicht wahr? Natürlich würde eine Scheidung den armen Jim umbringen – sonst hätte ich weiter nichts dagege n …»
    «Eine Scheidung?»
    «Nona sagt, so stellt sich Lita das vor. Dieses alberne Gör! Ich muss heute Nachmittag mit ihr reden. Ich bin nur hergekommen, um zu sehen, ob Kittys Einflus s …»
    «Oh, Kittys Einfluss!»
    «Ja, ich weiß.» Sie brach ab und warf Manford einen raschen Blick zu. «Aber wenn du nicht an ihren Einfluss glaubst, warum bist du dann gekommen?»
    Die Frage schien ihren Mann zu überraschen, und er antwortete mit einem etwas steifen Lächeln. Wie alt er in diesem harten, schiefergrauen Licht wirkte! Das krause Haar war an den Schläfen schon fast ebenso dünn wie weiter oben. Wenn er nur dieses wunderbare neue Mittel «Radioskalp»

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