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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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und seufzte, als schwelge sie in der Erinnerung an ihre eigene Befreiung. «Ich wollte, ich könnte euch alle zu ihm mitnehmen», sagte sie.
    «Na ja, vielleicht fängst du erst einmal mit Lita an.» Auch Nona lächelte ein wenig, aber es war jenes Lächeln, das ihre Mutter insgeheim als zersetzend bezeichnete.
    «Ich wünschte, das Kind wäre optimistischer, aber es hat leider das Juristengehirn seines Vaters geerbt», dachte Pauline.
    Nona stand unentschlossen vor ihr. «Du weißt, Mutter, wenn etwas schiefgeht, kommt Jim nie darüber hinweg.»
    «Schon wieder! Du bist ja förmlich besessen von der Schlussfolgerung, dass alles schiefgehen muss! Was Lita anbelangt, ist das für mich ein klarer Fall von Frustration. Sie sagt, sie möchte sich verwirklichen? Gut, darauf hat jeder Mensch ein Recht – ich hielte es für falsch, mich da einzumischen. Dadurch würde Jim auch nicht glücklich. Lita muss sich vielmehr von ihren Frustrationen befreien lassen. Das wird ihr die Augen für das Glück öffnen, und sie wird erkennen, was für ein unübertreffliches Zuhause sie hat. Wo ist denn mein Terminkalender? Maisie ! … Ach, hier.» Sie überflog das Täfelchen. «Ich werde Lita gleich morgen aufsuchen – die Sache ist mir wichtig. Wir werden uns freundschaftlich und ungezwungen unterhalten, ganz offen und herzlich. Mal sehe n … Um welche Uhrzeit treffe ich sie am wahrscheinlichsten an ? … Nein, natürlich nicht, Liebchen, ich denke nicht daran, Jim auch nur ein Wort zu sagen. Aber Vate r … mit deinem Vater kann ich doch darüber reden?»
    Nona zögerte. «Ich glaube, Vater weiß schon Bescheid – so viel, wie er wissen muss», antwortete sie, eine Hand an der Tür.
    «Ach, dein Vater weiß immer alles», stimmte Pauline friedfertig zu.
    Die Aussicht auf ein Gespräch mit ihrer Schwiegertochter vermochte ihren neu gefundenen Frieden kaum zu stören. Schade, dass Lita so ruhelos war, aber heutzutage waren ja alle jungen Leute ruhelos. Vielleicht sollte sie einmal mit Kitty Landish sprechen; die war zwar flatterhaft und inkonsequent, aber es mochte ihr die Augen öffnen, wenn sie merkte, dass sie ihre Nichte möglicherweise bald wieder auf dem Hals hatte. Mrs Percy Landish steckte ohnehin immer bis zum Hals (und manchmal noch tiefer) in Schwierigkeiten. Eine Reihe fantasievoller Lebensmodelle sowie das schonungslose Streben nach Originalität hatten bei ihr zu einem Zustand chronischer Verlegenheit in pekuniärer, sozialer und emotionaler Hinsicht geführt. Die Ankündigung, dass Lita Jim satthatte und ihn zu verlassen drohte, würde wie eine Bombe in das wacklige Dach ihres Hauses einschlagen, das laut New Yorker Adressbuch irgendwo in den East Hundreds stand, im «Social Register» 40 aber als Viking Court Nr. 1 aufgelistet war. Der Umzug ans Ufer des East River war Mrs Landishs jüngste Marotte gewesen. Sie und einige Freunde hatten es mit einem Häufchen Betonbungalows geschmückt, anfangs als «El Patio» bezeichnet, dann aber in «Viking Court» umbenannt, nachdem Mrs Landish in einer Illustrierten gelesen hatte, dass die Wikinger, die Amerika schon Jahrhunderte vor Kolumbus entdeckt hatten, nicht wie bisher angenommen in Vineyard Haven gelandet waren, sondern an einer Stelle in der Nähe von Mrs Landishs jetziger Behausung. Beton ist im Frühstadium formbar, und die Alhambra-Motive mussten rasch anderen weichen, zum Beispiel solchen vom Bug eines nordischen Schiffes, von silbernen Torques 41 und Runen, wobei man Letztere der Einfachheit halber den arabischen Suren des Koran nachempfunden hatte. Während diese neuen Verzierungen trockneten, hatten Mrs Landish und ihre Freunde an der historischen Stätte gezeltet, und vier Jahre nach dem Einzug zelteten sie noch immer, jedenfalls für Mrs Manfords Begriffe.
    Durch einen kurzen Anruf hatte sich Pauline vergewissert, dass sie Mrs Landish gleich nach dem Lunch besuchen konnte; um zwei Uhr fuhr ihr Wagen am Viking Court vor. Der kleine Platz öffnete sich auf ein verwildertes Flussufer und wurde zynischerweise von großen Mietshäusern mit Feinkostgeschäften im Erdgeschoss überragt.
    Mrs Landish war nirgendwo zu finden. Sie habe den Lunch auswärts einnehmen müssen, meldete ein schwermütiges Hausmädchen, weil die Köchin gerade gekündigt habe, aber sie komme sicher bald zurück. Mit behutsamen Schritten betrat Pauline den «Lebe-Raum», so bezeichnet (wie Besucher unweigerlich erfuhren), weil Mrs Landish dort aß, malte, töpferte, schnitzte und Freunde

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