Daemmerung der Leidenschaft
eigene Familie ihn behandelte. Lucinda brach jedesmal in Tränen aus, wenn sie ihn sah, und hatte sich bis jetzt auch noch nicht zu einer Aussprache mit ihm durchringen können. Gloria und Harlan Ames waren sicher, daß Webb Jessie getötet hatte, auch wenn sie es nicht lauthals äußerten; die Bemerkungen, die sie einigen ihrer engsten Freunde gegenüber fallenließen – von der »das-bleibt-aber-unter-uns-Sorte« –, sprachen jedoch für sich. Die etwas gewissenhafteren Seelen verwahrten sich zwar tapfer gegen den Tratsch, der jedoch breitete sich trotzdem aus wie eine Heuschreckenplage.
Die zwei Kinder von Gloria und Harlan, Baron und Lanette, hielten ihre jeweiligen Familien so weit fern von Webb, wie sie nur konnten.
Einzig Webbs Mutter, Yvonne, und seine Tante Sandra schienen von seiner Unschuld überzeugt zu sein, aber das war ja wohl selbstverständlich. Sandra hatte ihn von Anfang an zu ihrem Liebling auserkoren, wohingegen sie Glorias Enkel praktisch links liegenließ. Ein deutlicher Riß hatte sich aufgetan. Und was Roanna betraf, die die Leiche entdeckt hatte, sollte sie sich, so hörte man, so gut wie vollkommen zurückgezogen haben. Immer war sie Webb wie ein Hündchen auf den Fersen gewesen, doch selbst sie wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Man behauptete, sie hätten seit jener Tragödie kein Wort mehr gewechselt.
Böse Zungen verbreiteten das Gerücht, Jessie sei vor ihrer Ermordung brutal verprügelt worden; andere tuschelten etwas von Verstümmelung. Man habe Webb in flagranti mit Roanna, seiner kleinen Cousine, erwischt, hieß es; doch das glaubten die meisten nun auch wieder nicht. Vielleicht war er ja mit einer erwischt worden, aber mit Roanna? Die war doch dürr wie ein Besenstiel, total unattraktiv und hatte überdies keine Ahnung, wie man sich einen Mann angelte.
Nun, jedenfalls sollte eine Dame mit im Spiel gewesen sein, und man spekulierte hitzig, um welche Person es sich wohl handeln mochte.
Die Autopsie von Jessies Leiche war abgeschlossen, aber die Ergebnisse würden erst nach Abschluß der polizeilichen Untersuchungen freigegeben. Vorbereitungen für die Beerdigung wurden getroffen, und es kamen so viele Trauergäste, daß gar nicht alle in der Kirche Platz fanden. Selbst Leute, die sie nicht persönlich kannten, nahmen aus Neugier teil. Webb stand vollkommen alleine, eine Insel in einem Meer von Menschen, die um ihn herumwogten, ihn jedoch nicht ansprachen. Nur der Pfarrer drückte ihm sein Beileid aus.
Am Friedhof zeigte sich so ziemlich dasselbe Bild. Lucinda war vollkommen am Boden zerstört und weinte herzzerreißend, während sie Jessies blumenbedeckten Sarg über dem gähnenden Loch der vorbereiteten Grube anstarrte. Die Sonne brannte an diesem Sommertag, nicht ein Wölkchen stand am stahlblauen Himmel, und in der kochenden Atmosphäre rann der Schweiß in Strömen. Stoff- und Papiertücher wurden vor schweißglänzenden Gesichtern gewedelt.
Webb saß an einem Ende der ersten Reihe von Klappstühlen, die für die engste Familie aufgestellt worden waren. Yvonne, die fest seine Hand hielt, saß neben ihm, und dann kam Sandra. Der Rest der Familie hatte auf den anderen Stühlen Platz genommen, doch niemand schien so recht erpicht darauf zu sein, den Stuhl direkt hinter Webb zu besetzen. Schließlich schlüpfte Roanna dorthin, eine schmale, fast unwirkliche Er scheinung, die in den Tagen seit Jessies Ermordung sogar noch durchsichtiger geworden war. Diesmal stolperte sie nicht und ließ auch nichts fallen. Sie war bleich, ihr Gesichtsausdruck beinahe unbeteiligt. Ihr dichtes, kastanienbraunes Haar, normalerweise immer zerzaust, hatte sie zu einem festen Nackenknoten verschlungen und mit einem schwarzen Haarband festgemacht. Sie war zeit ihres Lebens herumgehüpft, als ob sie zuviel überschüssige Energie hätte, doch nun erschien sie seltsam starr. Mehrere Leute warfen ihr eigenartige Blicke zu, als ob sie sie kaum erkannten. Ihre zu große Nase, Augen und Mund, normalerweise unpassend in dem schmalen Gesichtchen, wirkten irgendwie passender zu der beinahe erhabenen Stille, die sie verströmte. Direkt hübsch war sie zwar immer noch nicht, aber doch ungewöhnlich ...
Man sprach die Gebete, und dann zogen sich die Trauergäste diskret zurück, damit der Sarg heruntergelassen und das Grab mit Erde gefüllt werden konnte. Keiner verließ jedoch den Friedhof, bis auf einige wenige, die zurückeilten in ihre Geschäfte. Der Rest ging herum, drückte Lucinda die Hand und
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