Daemmerung der Leidenschaft
über den Zaun, weil er gestreichelt werden wollte. Roanna war seit Jessies Tod nicht mehr geritten; tatsächlich ließ sie sich hier heute zum ersten Mal wieder blicken. Sie kraulte Buckley hinter den Ohren und sprach mit leiser, singender Stimme auf ihn ein; doch mit den Gedanken war sie ganz woanders, ihre Worte kamen einfach automatisch. Ihm schien das nichts weiter auszumachen; seine Augen waren halb geschlossen, und er schnaubte selig.
»Du hast ihm gefehlt«, sagte Loyal, der hinter sie trat. Er hatte den feinen Anzug, den er zur Beerdigung getragen hatte, wieder vertauscht mit der üblichen Khakihose und den Stiefeln.
»Ich habe ihn auch vermißt.«
Loyal stützte seine Arme auf den Zaun und ließ den Blick über sein Reich schweifen. Er erwärmte sich sichtlich beim Anblick der anmutigen, lebensfrohen Tiere, die er so über alles liebte. »Dein Befinden kann nicht besonders gut sein«, sagte er offen. »Du mußt besser auf dich achten. Die Pferde brauchen dich.«
»Es war eine harte Zeit«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme.
»Sicher war es das«, pflichtete er ihr bei. »Kommt mir immer noch ganz unwirklich vor. Und es ist 'ne Schande, wie die Leute Mr. Webb behandeln. Himmel, er hat doch Miss Jessie genauso wenig getötet wie ich. Jeder, der ihn nur ein bißchen kennt, sollte das wissen.« Loyal war minutiös über die Mordnacht befragt worden. Auch er hatte Webb davonrasen sehen und meinte, wie die anderen, daß es so zwischen acht und halb neun gewesen sein mußte. Danach hatte er jedoch keinen Wagen mehr gehört, bis der Sheriff gerufen worden und mit seinen Deputies auf der Bildfläche erschienen war. Roannas schriller Schrei hatte ihn aus einem tiefen Schlaf gerissen, ein Schrei, bei dem es ihm immer noch kalt über den Rücken lief, wenn er nur daran dachte.
»Die Leute kapieren das, was sie kapieren wollen«, murmelte Roanna. »Onkel Harlan hört sich gern reden, und Tante Gloria ist ein wenig töricht.«
»Wie glaubst du, geht es nun weiter? Jetzt, wo die hier leben, meine ich ...«
»Ich weiß nicht.«
»Wie nimmt Miss Lucinda das alles auf?«
Roanna schüttelte den Kopf. »Dr. Graves hält sie unter leichten Beruhigungsmitteln. Sie hat Jessie sehr geliebt und weint ununterbrochen.« Lucinda war durch Jessies Tod erschreckend zusammengeschrumpft, als ob dies ein Schlag zuviel für ihre so robuste Natur gewesen wäre. Sie hatte all ihre Hoffnungen auf Webb und Jessie gesetzt, und jetzt, wo Jessie tot und Webb des Mordes verdächtig war, sah es so aus, als ob all ihre Pläne zunichte seien. Roanna wartete und wartete darauf, daß Großmutter zu Webb hinging und ihn umarmte, daß sie ihm ihr Vertrauen aussprach. Aber aus irgendeinem Grund, vielleicht weil Großmutter einfach zu gelähmt war vor Kummer oder vielleicht weil sie ja sogar glaubte, daß Webb Jessie getötet hatte, geschah absolut nichts. Konnte Lucinda denn nicht sehen, wie sehr Webb sie brauchte? Oder machte ihr eigener Schmerz sie so blind, daß sie seinen nicht mehr wahrnahm?
Roanna dachte mit Grauen an die kommenden Tage.
»Wir haben die Autopsieergebnisse zurückbekommen«, sagte Booley am Tag nach der Beerdigung zu Webb. Sie befanden sich wieder in Booleys Büro. Webb hatte das Gefühl, seit Jessies Tod dort mehr Zeit verbracht zu haben als irgendwo anders.
Der anfängliche Schock war verflogen, doch Zorn und Kummer wüteten immer noch in seinem Innern, und zwar um so stärker, weil er sie nicht zeigen durfte. Er wagte nicht, seine Beherrschung auch nur für eine Sekunde zu lockern, da er fürchtete, sonst zu explodieren und alle in der Luft zu zerreißen: seine sogenannten Freunde, die ihm aus dem Weg gingen, als ob er Lepra hätte, seine Geschäftspartner, von denen einige sich insgeheim sogar die Hände rieben, diese Halunken, angesichts der Schwierigkeiten, in denen er steckte, und am allermeisten seine liebe Familie, die ihn offenbar einhellig für einen Mörder hielt. Nur Roanna war zu ihm gekommen und hatte gesagt, daß es ihr leid tat. Weil sie selbst Jessie aus Versehen getötet hatte und sich fürchtete, es zuzugeben? Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, egal, was er vermutete. Was er jedoch genau wußte, war, daß sie ihm ebenso aus dem Weg ging wie die anderen – Roanna, die immer so bemüht gewesen war, sich an seine Person zu heften, und die sich jetzt wegen irgend etwas schuldig fühlte.
Er konnte einfach nicht aufhören, sich Sorgen um sie zu machen. Es war offensichtlich, daß sie kaum mehr aß,
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