Daemmerung der Leidenschaft
wollte. In sämtlichen Büchern über Schlaflosigkeit wurde empfohlen, aufzustehen und nicht das Bett zum Ort seiner Frustration zu machen. Roanna hatte sich das schon längst angewöhnt, auch wenn es nicht viel half. Manchmal las sie, um sich die langen Stunden zu vertreiben, manchmal legte sie Patiencen; aber meist saß sie einfach nur im Dunkeln und wartete.
Das tat sie auch jetzt, weil sie einfach zu müde für eine Tätigkeit war. Sie saß mit angewinkelten Beinen in einem Großraumsessel, der leicht Platz für zwei geboten hätte. Der Sessel war ein Weihnachtsgeschenk von ihr für sich selbst vor fünf Jahren, und sie mochte ihn nicht mehr missen. Wenn sie es doch einmal schaffte, ein wenig einzunicken, dann meist in diesem Sessel. Im Winter wickelte sie sich immer in ihre kuscheligste Decke und beobachtete vom Sessel aus, wie die Nacht langsam an ihrem Fenster vorbeikroch. Doch jetzt war Sommer, und sie trug nur ein dünnes, ärmelloses Nachthemd, daß sie allerdings bis über ihre Füße gezogen hatte. Sie hatte ihre Balkontür geöffnet, um den beruhigenden Lauten der warmen Sommernacht zu lauschen. In der Ferne tobte ein Gewitter; sie sah die Blitze über den nachtblauen Himmel zucken, Wolken purpurrot aufflammen; doch der Sturm war so weit weg, daß der Donner nur wie ein fernes Grollen zu ihr drang.
Wenn sie schon wach liegen mußte, dann wenigstens in lauen Sommernächten wie diesen. Und wenn sie die Wahl hatte zwischen Schlaflosigkeit und der anderen Alternative, dann bevorzugte sie erstere.
Denn wenn sie schlief, wußte sie nie, wo sie wieder aufwachen würde.
Sie glaubte nicht, daß sie je das Haus verlassen hatte. Normalerweise wachte sie irgendwo drinnen auf, und ihre Füße waren nie schmutzig; dennoch überfiel sie fast ein Gefühl von Panik, wenn sie daran dachte, daß sie nachts, ohne es zu wissen, herumgeisterte. Sie hatte auch darüber einiges gelesen. Schlafwandler waren offenbar in der Lage, Treppen zu steigen, Auto zu fahren, ja, sich sogar mit anderen zu unterhalten, während sie schliefen. Dieser Gedanke tröstete sie keineswegs, denn sie wollte so etwas nicht tun. Sie wollte genau dort aufwachen, wo sie sich niedergelegt hatte.
Falls sie je bei ihren nächtlichen Streifzügen gesehen worden war, so hatte nie jemand etwas davon erwähnt. Sie glaubte nicht, daß es jede Nacht passierte; aber wie sollte sie das auch wissen, und die Familie ging das auch nichts an. Alle wußten, daß sie Schlafprobleme hatte; also falls sie jemand mitten in der Nacht herumspazieren sah, anscheinend vollkommen wach, nahm man wohl an, daß sie nicht einschlafen konnte und kümmerte sich nicht weiter darum.
Wenn im Haus bekannt würde, daß sie Schlafwandlerin war ... sie wollte nicht schlecht über ihre Familie denken, hegte aber so ihre Zweifel hinsichtlich einiger Mitglieder. Besonders Corliss war nicht zu trauen – die Versuchung, ihr alle möglichen Streiche zu spielen, wäre einfach zu groß. Irgendwie erinnerte Corliss Roanna an Jessie, obwohl sie nur ihre Cousine zweiten Grades war – was bedeutete, daß sie nicht viele gleiche Gene besaßen. Jessie war kaltblütiger, raffinierter gewesen, aber auch aufbrausender. Corliss plante nie, sie handelte spontan und neigte auch nicht zu Wutausbrüchen. Meist war sie einfach nur rastlos und unglücklich, und es gefiel ihr, die Leute in ihrer Umgebung ebenfalls unglücklich zu machen. Was immer sie sich auch vom Leben erhoffte, sie hatte es nicht bekommen.
Roanna glaubte kaum, daß Webb sich mit Corliss vertragen würde.
Was sie wieder an den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zu den Ereignissen des vergangenen Tages zurückbrachte – nicht, daß ihre Gedanken je weit oder auch nur für längere Zeit davon abgeschweift wären.
Sie wußte nicht, was sie von all dem halten sollte. In Beziehungsfragen kannte sie sich nicht gut aus, da sie ja noch nie eine gehabt hatte. Sei es, wie es sei, Webb war zornig und ein wenig betrunken gewesen. Nüchtern und bei klarem Verstand, hätte er sie wahrscheinlich nicht auf diese Weise unter Druck gesetzt; doch das änderte nichts an der Tatsache, daß sie ohne den geringsten Widerstand mit ihm ins Bett gefallen war. Die Umstände mochten erniedrigend gewesen sein, doch in jenem kleinen, geheimen Winkel ihrer Seele frohlockte sie noch immer.
Sie bereute nichts. Auch wenn ihr nie wieder etwas Gutes im Leben widerfahren sollte, wußte sie jetzt zumindest, wie es war, in Webbs Armen zu liegen, mit ihm zu schlafen. Die
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