Daemmerung der Leidenschaft
handeln – als durch vorschnelle Entschlüsse angerichtete Schäden wiedergutmachen zu müssen.
»Sicherlich möchtest du mir ein paar Dinge vorhalten«, gab Lucinda sich reumütig und nahm wieder auf dem Sofa Platz. »Der Himmel weiß, ich habe es verdient. Nun, hier ist deine Chance, dir alles von der Seele zu reden, also laß es ruhig raus. Ich werde einfach sitzenbleiben und dir aufmerksam zuhören.«
Sie ist genauso willensstark und unbeugsam wie früher, dachte er, aber erschreckend eingefallen. Als sie ihn umarmte, hatte er gespürt, wie zerbrechlich ihre alten Knochen waren, hatte die fast durchsichtige Blässe ihrer Haut bemerkt. Sie sah gar nicht gut aus, und ihr Energiepegel war ziemlich niedrig. Aus den Briefen von Yvonne wußte er, daß Lucindas Gesundheit rapide abnahm; aber er hätte nicht gedacht, daß es so schlecht um sie stand. Ihr Tod war nur mehr eine Frage von Monaten; er bezweifelte, daß sie den Frühling noch erleben würde.
Sie war ein Markstein in seinem Leben gewesen, ein Fels. Zwar hatte sie ihn im Stich gelassen, als er sie am meisten brauchte; doch nun war sie bereit, sich seinem Zorn zu stellen. Er kannte ihren Charakter, hatte seine eigene Stärke und wachsende Männlichkeit immer daran gemessen, ob er sich ihr gegenüber durchsetzte. Verdammt nochmal, er war noch nicht bereit, sie gehen zu lassen.
Webb lehnte sich an eine Schreibtischkante. »Darauf komme ich noch«, sagte er und fuhr dann mit kaum unterdrückter Wut fort: »Aber zuerst möchte ich wissen, was, zur Hölle, ihr mit Roanna gemacht habt!«
Lucinda dachte lange still nach, und Webbs Anschuldigung stand bedrohlich zwischen ihnen. Sie starrte aus dem Fenster, hinaus auf das sonnenüberflutete Land, über das die Schatten flockiger Schäfchenwolken hinwegzogen.
Davenport-Land, so weit das Auge reichte. Stets hatte sie Trost geschöpft aus diesem Anblick und liebte ihn immer noch; aber nun, da ihr Leben sich neigte, waren ihr andere Dinge wichtiger.
»Ich habe zunächst gar nichts bemerkt«, sagte sie schließlich, den Blick in die Ferne gerichtet. »Jessies Tod war – nun, darüber reden wir später. Ich steckte so tief in meinem eigenen Kummer, daß ich Roanna erst bemerkte, als es schon fast zu spät war.«
»Wie – zu spät?« bellte er.
»Sie wäre beinahe gestorben«, gestand Lucinda. Ihr Kinn zitterte, aber sie hatte sich rasch wieder unter Kontrolle. »Ich dachte immer, Jessie wäre diejenige, die unbedingt Liebe bräuchte, wegen der Umstände ihrer Geburt, weiß du ... dabei übersah ich, daß Roanna sie sogar noch dringender brauchte; doch sie verlangte nicht danach, nicht so wie Jessie. Seltsam, nicht wahr? Ich liebte Jessie vom ersten Augenblick an – aber sie hätte mir niemals so geholfen wie Roanna, oder auch nur annähernd eine so wichtige Rolle in meinem Leben übernommen. Roanna bedeutet mir mehr als meine rechte Hand; ich wüßte nicht, wie ich die letzten Jahre ohne sie hätte überstehen sollen.«
Webb wischte das alles ungeduldig beiseite. Ihn interessierte nur eins. »Wie konnte sie fast sterben?« Der Gedanke erschütterte ihn in seinen Grundfesten, und eine eiskalte Angst keimte in ihm auf, als er an ihr verzweifeltes, schuldbewußtes Gesicht dachte, an dem Tag von Jessies Beerdigung. Sie hatte doch nicht etwa versucht, sich umzubringen?
»Sie hörte auf zu essen. Hat ja auch davor schon oft gestreikt, also fiel mir lange Zeit nichts auf, fast zu lange. Alles war so durcheinander, jeder aß, wann es ihm einfiel, und ich nahm wohl an, sie würde dasselbe tun. Sie hielt sich überwiegend in ihrem Zimmer auf, gar nicht mal absichtlich, glaube ich«, erklärte Lucinda leise. »Sie ... sie hat eben einfach das Interesse an allem verloren. Als du gingst, zog sie sich vollkommen zurück. Sie gibt sich an allem die Schuld, weißt du.«
»Warum?« fragte Webb. Roanna hatte gesagt, sie hätte es nicht absichtlich gemacht, aber vielleicht ja doch – und es Lucinda anvertraut?
»Es dauerte lange, bevor sie darüber reden konnte; erst vor ein paar Jahren hat sie mir dann erzählt, was in der Küche geschehen ist, daß sie sich dir buchstäblich an den Hals geworfen hat. Sie wußte nicht, daß Jessie herunterkommen würde, und natürlich war es typisch Jessie, eine Riesenszene daraus zu machen; aber Roanna glaubt, sie wäre an allem schuld, weil sie dich geküßt hat. Wenn sie es nicht getan hätte, dann hätte Jessie keinen Streit angefangen, du wärst nicht des Mordes an ihr beschuldigt worden
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