Dämmerung in Mac's Place (German Edition)
»Das weiß ich noch nicht«, sagte er. »Vielleicht beides.«
42
Der erste Schuß klang wie ein dicker Stock, der in zwei Stücke gebrochen wird. Haynes hielt die Waffe für ein Gewehr vom Kaliber .22 und vermutete, daß der Schütze mindestens fünfzig Meter entfernt war, da er den Schuß sofort nach dem Einschlag der Kugel in die Tür des Motelzimmers hörte.
Haynes hechtete weg von der Tür, die er gerade geschlossen hatte, riß Erika McCorkle von hinten um und schleuderte sie auf den Boden vor dem Kühlergrill des alten Cadillac. Im Fallen ließ sie ihre Segeltuchreisetasche los, die unter den Wagen rutschte.
Noch halb auf ihr liegend, hob Haynes den Kopf und schaute zu dem Loch in der Tür, als eine zweite Kugel fünf Zentimeter links von der ersten in das Holz klatschte. Einen Sekundenbruchteil später kam wieder das Geräusch eines entzweibrechenden Stockes.
Ein dritter Schuß löschte die Lampe über der Tür des Motelzimmers. Es war, als müsse der Schütze beweisen, daß die beiden ersten Kugeln keine Fehlschüsse, sondern Schießkunst waren. Haynes zückte den von McCorkle geborgten Revolver aus der Manteltasche, kroch von Erika weg und robbte zur linken Seite des Autos, wo er um den Vorderreifen spähte – denjenigen, den sie gewechselt hatten.
Als Haynes am Vorderreifen vorbei zum Dach des U-förmigen Motels spähte, sah er eine dunkelblaue oder schwarze Limousine, die in die Nacht davonraste. Haynes erhob sich, steckte den Revolver in die Manteltasche und half Erika auf. Ihr Mund stand offen, während sie versuchte, große Mengen Luft einzuatmen.
»Hyperventilierst du?«
Sie schüttelte den Kopf und keuchte weiter.
»Ich kann die Essenstüte holen, damit du hineinatmen kannst.«
Wieder schüttelte sie den Kopf, diesmal sogar noch energischer, und sagte immer noch keuchend: »Noch nie – hat – jemand – auf mich – geschossen.«
»Der Schütze ist fort«, sagte er.
»Bist du sicher?«
Haynes nickte. »Er hat nicht auf uns geschossen. Er hat auf die Tür und die Lampe geschossen. Beides hat er getroffen.«
»Oh, Mist, soviel Angst hatte ich noch nie.«
»Das war beabsichtigt. Geht’s dir besser?«
»Ich zittere immer noch.«
»Deine Atmung, meine ich.«
»Alles in Ordnung.«
»Dann fahren wir jetzt zu Mott.«
»Und wohin, zum Teufel, können wir danach?«
»Was hältst du von Baltimore?« sagte Haynes.
Nachdem sie Erikas Tasche unter dem Wagen hervorgezogen hatten, fuhren sie langsam zur Ausfahrt des Motels. Einige halbbekleidete Gäste spähten durch teilweise geöffnete Türen, als versuchten sie zu entscheiden, ob das, was sie gehört hatten, Schüsse oder Fehlzündungen waren. Der Motelbesitzer, der draußen in Hemdsärmeln vor Kälte zitterte, warf dem alten Cadillac einen desinteressierten Blick hinterher, bevor er sich wieder in die Wärme seines Büros zurückzog. Haynes nahm an, seine hundert Dollar Kaution würden nicht nur die Kosten für das Zimmer, sondern auch die Schäden an Tür und Lampe decken.
»Wie hat man uns so schnell gefunden?« fragte Erika, als Haynes auf die Wisconsin Avenue bog und nach Süden steuerte.
»Keine Ahnung.«
»Ich dachte, du warst mal Detective.«
»War ich.«
»Also, mal angenommen, jemand wie wir kommt zu jemand wie dir und sagt: ›He, wir haben versucht, uns vor den Bösewichten zu verstecken, aber die haben uns gefunden und auf uns geschossen. Was sollen wir jetzt Ihrer Meinung nach tun?‹«
»Bin ich immer noch Cop?«
»Du bist immer noch Cop.«
»Dann würde ich wahrscheinlich sagen: ›Also, Leute, was haltet ihr von Baltimore?‹«
Da sie den frisch gebackenen Apfelkuchen, den Lydia Mott ihnen aufdrängte, nicht auf höfliche Art und Weise ablehnen konnten, aßen Haynes und Erika jeder ein Stück, tranken eine Tasse Kaffee dazu und folgten dann dem mit Pyjama und Bademantel bekleideten Howard Mott die Treppe hinauf in sein Arbeitsmusikzimmer.
Sie setzten sich, und Haynes gab einen präzisen Bericht des Vorfalls am Bellevue Motel. Als Haynes fertig war, stellte Mott seine erste Frage. »Wie lange waren Sie dort?«
»Fünf oder sechs Stunden.«
»Irgendeine Vorstellung, wieso man Sie so schnell gefunden hat?«
»Keine – nur daß der ungebetene Besucher Hilfe gehabt haben muß.«
Mott schob den linken Ärmel seines riesigen blau-weiß gestreiften Bademantels zurück und sah auf seine Armbanduhr. »Eingecheckt im Motel haben Sie wann … etwa um sechs?«
»Eher halb sechs.«
»Und der Schütze hat Sie um elf
Weitere Kostenlose Bücher