DAEMON
Vollstrecker nie wissen würden, wer die tödliche Infusion verabreicht hatte. Was für ein bizarres System, angesichts der Tatsache, dass jeden Tag Menschen andere Menschen töteten, ohne es zu verschleiern. Wenn er versuchen würde, über die Gefängnismauer zu klettern, würden sie ihn ohne Zögern erschießen.
Sebeck blickte an seinem Körper hinab und fand es komisch, dass er so gut in Form war wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Das Einzige, was ihn davon hatte abhalten können, in der Isolationshaft verrückt zu werden, waren endlose Liegestütz- und Sit-up-Serien gewesen. Unter den rund um die Uhr sirrenden Leuchtstoffröhren seiner Zelle. Die Muskelstränge an seinen Armen weckten Erinnerungen an seine Jugend. An bessere Zeiten.
Sebeck lag leicht aufgerichtet da, damit er die Zeugen hinter den Fenstern sehen konnte. Er fühlte sich seltsam ruhig, als er sie betrachtete. Eine Mischung aus neugierigen und zornigen Gesichtern starrte zurück. Einige machten sich Notizen.
Das also war die Todeskammer? So fühlte es sich an, hingerichtet zu werden. Seine Hoffnung auf Sobol hatte ihn getrogen. Seine Reaktion auf die Handybotschaft damals bei der Aufbahrung hatte keinen Retter aus dem Jenseits mobilisiert. Als er noch sein bürgerliches Vorstadtleben geführt hatte,wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, dass er eines Tages von der Bundesregierung zum Tode befördert werden könnte. Und jetzt lag er hier. Fast hätte er gelacht.
Hatte es je wirklich einen Daemon gegeben? Selbst wenn es ihn gab, wurde er, Sebeck, jetzt endgültig von ihm vernichtet. Sein relativ kurzes Leben hatte er nur vergeudet. Das einzig Gute, was er hervorgebracht hatte, war sein Sohn – was für eine Ironie, wo ihm Lauras Schwangerschaft doch immer als das Schlimmste erschienen war, was ihm hatte passieren können.
Die meisten Leute hier glaubten wirklich, er sei an einer Verschwörung zur Ermordung von FB I-Beamten beteiligt gewesen. Er konnte ihnen im Grunde nicht verübeln, was sie taten. An ihrer Stelle würde er jetzt auch in rechtschaffenem Zorn zuschauen.
In diesem Moment bemerkte er Anji Anderson auf der Zuschauergalerie. Wut packte ihn. Das hatte gerade noch gefehlt – dieses selbstgefällig-dreiste Gesicht mit dem leisen Lächeln um die Mundwinkel. Wie eine böse Fee. Sebeck durchbohrte sie mit seinem giftigsten Blick. Zuerst behielt sie den selbstgefälligen Ausdruck bei, aber dann verschwand das leise Lächeln, und schließlich wandte sie den Blick ab.
Nach einer kurzen Besprechung mit dem Mediziner beugte sich der Gefängnisdirektor zu Sebeck hinab und fragte ihn, ob er noch irgendwelche letzten Worte zu sprechen gedenke. Sebeck hatte monatelang über seine letzten Worte nachgedacht. Zu lange, angesichts der Tatsache, dass sie ja sowieso nichts ändern würden. Er hatte sich für die stoische Haltung entschieden.
Er blickte in die verspiegelten Scheiben, hinter denen die Angehörigen der Opfer saßen. «Ich habe die Menschen, die Sie geliebt haben, nicht getötet. Ich habe überhaupt niemanden getötet. Aber an Ihrer Stelle würde ich mich auch fürschuldig halten. Hoffentlich kommt eines Tages die Wahrheit heraus, und sei es nur, damit mein Sohn weiß, dass sein Vater kein Mörder war.» Er schwieg einen Moment und sagte dann: «Das war’s, bringen wir’s hinter uns.»
Fast sofort war da ein warmes Gefühl in seinem Arm. Es drang wie eine Welle der Betäubung durch seinen ganzen Körper. Er dachte, dass das die Geschwindigkeit seines Blutstroms war. Er bemerkte einen Aufkleber an der Leuchtstofflampe über sich. Darauf stand: «30W-EVG-PARABOL-REFLEKTORLEUCHTE». Nicht gerade ein passender Geleitspruch, um diese Welt zu verlassen. Also drehte er den Kopf zu dem Mediziner, der neben ihm stand, einem hageren Mann mit kalten blauen Augen, die ihn eisig anstarrten. Nicht einmal Sebeck konnte diesem grimmigen Blick standhalten, darum fixierte er jetzt das Logo am Revers des weißen Kittels. Darauf stand: Singer/Kellog Medical Services Inc.
Sebeck fühlte, wie seine Lider schwer wurden und sein Atem sich verlangsamte. Er richtete den Blick wieder auf die Lampe. Als sich sein Gesichtsfeld eintrübte, rang er darum, das Licht festzuhalten. Ihm ging auf, dass er vergessen hatte, den letzten Blick auf diese Welt bewusst auszukosten. Jetzt war es zu spät, und er kämpfte um einen Schimmer von irgendetwas. Aber da war nur Schwarz. Und dann war gar nichts mehr, und er fiel in einen Schacht aus Leere, so tief und so weit, als
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