DAEMON
ganz gut sehen. Da war etwas Mondlicht.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erschien das Anmeldefenster, und gleich darauf startete Gragg NetStumbler. Das Programm suchte nach verfügbaren Netzwerken. Binnen Sekunden erschien zu Graggs Verblüffung eine vertraute SSID:
Monte_Cassino
Das Signal schien aus dem Schlacksteingebäude zu kommen.Wieder packte Gragg die Nervosität. Worauf hatte er sich bloß eingelassen? Er versuchte, die aufsteigende Angst unter Kontrolle zu bekommen. Was lief hier ab?
Hier war ein
OTR
-Server.
Er konfigurierte seine WiFi-Karte auf die SSID und bekam gleich darauf eine I P-Adresse für das ungesicherte Netzwerk. Er hielt sich nicht damit auf, das Netzwerk zu erkunden. Er schloss NetStumbler, machte seine C D-Tasche auf und ging die C D-Rs durch, bis er eine fand, die die Filzstiftaufschrift
«OTR»
trug. Er legte sie ins Laufwerk des Laptops ein, startete
Over the Rhine
, klickte sich schnell durch die Eröffnungsscreens und wählte dann den Mehrspielermodus. Er ließ das Spiel nach verfügbaren Servern suchen. Nur einer erschien auf der Server-Liste: der Houstoner Monte-Cassino-Server. Der, den seine WiFi-Karte gefunden hatte.
Gragg lächelte und doppelklickte auf den Servernamen. Das Laden der Map begann. Seltsamerweise erschien kein Auswahlfenster für Waffen. Kurz darauf stand Graggs Avatar unbewaffnet in einem Schützengraben am Fuß des Monte Cassino. Normalerweise hätte er sich jetzt nach links hinübergearbeitet, aber ohne Waffen war das ziemlich sinnlos. Gragg spähte über den Grabenrand und sah die vertrauten deutschen MG-4 2-Nester oben an der Ruine.
Komischerweise eröffneten die Krauts nicht sofort das Feuer. Gragg ließ seinen Avatar einen Moment, wo er stand, und noch immer kamen keine Leuchtspurgeschosse den Berg herab. Er beschloss, sein Glück zu versuchen, und sprang auf den Schützenauftritt des Grabens, dann hinaus ins Freie.
Noch immer kein M G-Feuer . Die Deutschen warteten einfach nur ab.
Gragg begann, sich auf ihre Linien zuzubewegen. Er hatte es noch nie geschafft, sich dem Kloster aus dieser Richtung zu nähern, und jetzt sah er drei MGs aus hundert Metern Entfernungauf ihn zielen. Die Läufe folgten ihm, als er weiterging, aber geschossen wurde noch immer nicht.
Gragg ging geradewegs bergauf, genau auf das mittlere MG zu. Der Lader kauerte neben den Schützen. Die Nichtspieler-Charaktere hatten diesen vertrauten leeren Gesichtsausdruck. Gragg war jetzt nur noch drei Meter von der M G-Mündung entfernt. Sie starrte auf ihn herab, bereit, seinen Avatar auf die Zuschauerliste zu schicken. Er war jetzt so nah dran, dass er den Rang des M G-Schützen an dessen Schulterabzeichen ablesen konnte: Unterfeldwebel.
Zu Graggs Verblüffung ließ der Schütze das MG los und hob die Hand. «Halt!», sagte er auf Deutsch. «Ich kenne Ihren Namen.» Er erhob sich und winkte Gragg hinter sich her. «Folgen Sie mir!» Der Schütze ging in die Ruine hinein, und Gragg folgte ihm. Ein Dutzend deutsche Soldaten erhoben sich aus ihren versteckten Stellungen zwischen den Felsen und beobachteten ihn mit grimmig funkelnden Augen.
Der Unterfeldwebel führte Gragg durch ein Labyrinth von Räumen und Trümmern. Hinter jeder Ecke waren weitere Krauts mit Schmeisser-MPs oder Mörsern. Wenn er an ihnen vorbeiging, tuschelten sie und zeigten mit dem Finger auf ihn. Das musste man Sobol lassen: Hier stimmte jedes Detail. Gragg fühlte sich wirklich wie in einer feindlichen Festung.
Er wurde in ebenjenen Keller hinabgeführt, in dem er Boerner das erste Mal auf der Monte-Cassino-Map begegnet war. Sie gingen zwischen den Weinfässern hindurch zu der Tür in der hinteren Wand. Fackeln erhellten ihren Weg, flackerten in einem digitalen Luftzug. Gragg sah sich um. Von den Brandschäden des letzten Spiels war nichts mehr zu sehen.
Sie folgten dem dunklen Gang, der in den Fuß des runden Turms führte. Der Lichtkegel fiel noch immer herein und beleuchtete die Wand, wo die verschlüsselte Botschaft gestanden hatte, aber jetzt lautete die gemeißelte Inschrift:
29.3935 – 95.3933
Gragg drehte seinen Avatar zu dem metallenen Gitter, durch das Boerner das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte. Hinter dem Gitter war es dunkel. Plötzlich jedoch füllte der Schein eines Streichholzes den Raum hinter dem Gitter, und da stand Boerner und zündete sich eine Zigarette in dieser verdammten Zigarettenspitze an. Er schützte sie mit der Hand, bis sie brannte, und blies dann eine Wolke von
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