Dämon
zehn Meter von der Stelle entfernt, wo die Leichen von Jill Euan und Kenneth Lyerman gefunden worden waren. Kühler Nieselregen fiel. Sein Haar war durchnässt und klebte an seinem Kopf. Einmal mehr versuchte er sich zu bewegen, doch die Fesseln hielten.
Hinter ihm ertönte ein Geräusch – das vertraute Surren des elektrischen Rollstuhls. Brogan hörte das Knirschen von Holzspänen unter den Gummirädern. Er wollte den Kopf in die Richtung drehen, aus der das Geräusch kam, doch seine Bewegungsfreiheit war zu sehr eingeschränkt. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Lyerman sich näherte. Der kleine Panamaer ging neben ihm her.
»Guten Abend, Detective«, begrüßte Lyerman ihn, als der Rollstuhl schließlich vor Brogan stehen blieb. »Oder sollte ich lieber ›Guten Morgen‹ sagen, denn Mitternacht ist ja vorbei? Nun, ich denke, es spielt keine Rolle.«
»Ich weiß alles über Sie«, sagte Brogan, und seine Zunge und die Lippen gehorchten ihm nur träge, als hätte man ihm Novocain injiziert. »Ich weiß, was Sie getan haben.«
»Nun, dann haben Sie sich Ihre Pension wahrhaftig verdient, Detective. Beantworten Sie mir eine Frage – war es mein Sohn? Hat der Tod meines Sohnes Sie so lange abgelenkt?«
»Es war Ihr eigenes Fleisch und Blut, das diese Kreatur hier oben auf dem Dach ermordet hat. Wie konnten Sie zulassen, dass so etwas geschieht?«
Lyerman seufzte. »Er war mein eigener Sohn, zugegeben. Aber seien wir mal ehrlich – er war nicht besonders gut geraten. Kennen Sie die biblische Geschichte von Abraham, der von Gott gebeten wird, seinen Erstgeborenen als Beweis seines Glaubens zu opfern?«
Brogan nickte, und weitere Tropfen rannen ihm von der Stirn in die Augen. Langsam bewegte er eine Hand hin und her, um die Festigkeit seiner Fesseln zu prüfen. Der kleine Panamaer starrte ihn unverwandt an, ließ sich jedoch nicht anmerken, ob er etwas von Brogans Bemühungen bemerkte oder nicht.
»Dieser Dämon hat einen ähnlichen Beweis meiner Ergebenheit verlangt«, sagte Lyerman. »Nur dass der Dschinn im Unterschied zu Gott erwartet hat, dass die Tat auch vollbracht wird.«
»Warum haben Sie ihm geholfen?«
»Wenn Sie meinen Lebenslauf verfolgt haben, wissen Sie, dass ich im Zweiten Weltkrieg an Bord der USS Galla gedient habe. Und dass wir in einer Nacht im November von japanischen Flugzeugen angegriffen wurden. Es ist grauenhaft, im Bauch eines Schiffes festzustecken, wenn es getroffen wird. Die Gewalt ist … unvorstellbar. Die Wucht der Schallwellen allein reicht aus, um einem Mann das Bewusstsein zu rauben. Ich befand mich in der Messe, zusammen mit zwölf anderen Männern, als die Explosion durchs Schiff ging. Sie riss den Rumpf auf wie eine Blechdose, und die Galla lief binnen kürzester Zeit voll Wasser. Wir konnten nicht mehr atmen, waren eingesperrt in der Dunkelheit des sinkenden Schiffes. Ich bin voller Panik durch die Messe geschwommen und habe versucht, irgendwie nach draußen zu gelangen, doch das hereinströmende Wasser hat mich daran gehindert. Es war das letzte Mal, dass ich mich ohne diesen Rollstuhl bewegt habe …
Eine zweite Explosion im Maschinenraum ließ das sinkende Schiff noch einmal erbeben. Ich wurde aufs Deck geschleudert und brach mir das Rückgrat. Dann zog jemand mich in ein Rettungsboot, und ich erwachte erst zwei Wochen später.« Lyerman starrte über das Dach auf die nächtliche Silhouette Bostons. Regen nieselte auf ihn herab, als er in seinem Rollstuhl saß, wie Brogan unfähig, sich zu bewegen. »Zum ersten Mal habe ich zu Gott gebetet. Ich betete, dass ich irgendwann wieder laufen könne, eine Treppe hinaufsteigen könne … Ein ganzes Jahr lang betete ich, die ganze Zeit, die ich im Krankenhaus lag. Doch ich erhielt keine Antwort.
Ich wusste, was auf diesem Schiff war. Ich wusste, was wir an Bord hatten, dass es ein Dämon war. Ein Dämon, der die Gestalt eines Menschen angenommen hatte, um von der Insel zu fliehen. Und als ich das Warten auf eine Antwort Gottes aufgab, richtete ich meine Gebete an diese Kreatur. Ich versprach, alles in meiner Macht zu tun, diesem Dämon zu helfen, wenn er mir dafür meine Beine wiedergab …«
»Aber Sie sitzen immer noch im Rollstuhl«, stellte Brogan fest.
»Für den Augenblick.« Lyerman zuckte die Schultern. »Kennen Sie die Legende von Sidina?«
Brogan nickte. »Ich habe davon gehört.«
»Sidina ist hier. Er ist ganz nah. Der Dämon wird zu ihm kommen, wer immer Sidina ist. Und sobald der Dschinn wieder zum Leben
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