Dämonen-Reihe Bd. 4 Traumsplitter
dringend Geld, und noch dringender brauchte sie Unterstützung bei den vielen Kleinigkeiten, die man eigentlich auch gut selbst erledigen konnte, wie Fensterrahmen abschleifen und lackieren oder den Keller ausmisten, der bei der Räumung des Hauses vergessen worden war. Zwar hatten sich auf die Zettel mit dem Mietangebot viele gemeldet, aber die meisten Anwärter – überwiegend Studenten von der hiesigen Uni – kniffen, als ihnen klar wurde, dass sie tatsächlich würden mit anfassen müssen. Das war nämlich Ellas Angebot: extra
preiswerte Zimmer und als Gegenleistung eine helfende Hand bei der Renovierung. Offenbar hatten die jungen Leute im Sommer Besseres zu tun, als mit einem Hut aus Zeitungspapier vier Meter hohe Wände zu streichen. Und auch Ella würde bald etwas Besseres zu tun
haben, selbst wenn es nur das Ablichten hüllenloser Küstenjungs und Badenixen war.
Wie auf Abruf grummelte ihr Bauch. Entweder weil ihm diese Vorstellung böse aufstieß oder schlicht vor Hunger – das war hier die Frage. Ella entschied sich für Hunger, denn schließlich gab es keinen Grund, sich für ihren ersten Job zu schämen.
Warum auch? Sie hatte nichts gegen Aktaufnahmen, wenn sie gut gemacht waren. Nur,
dass sie damit ihren Einstand in die Sandfernsche Fotografenzunft feierte, war nicht ganz nach ihrem Geschmack. Wenn sie Pech hatte, würden die Aufnahmen sie auf eine Schiene festgelegen, die nicht wirklich ihren Vorstellungen entsprach. Andererseits musste man als freie Fotografin nehmen, was einem angeboten
wurde, sonst hieß es ganz fix: »Die
Johansen kannst du vergessen, die macht nur Kunst.« Und Ella wollte Jobs, jede Menge Jobs, denn sie arbeitete ausgesprochen gern. Und da konnte sie mit dem Ruf, die Nackedeis von Seite drei zu machen, besser leben, denn als pingelige Neinsagerin verschrien zu sein, bevor sie ihr Können überhaupt unter Beweis gestellt hatte.
Allem Anschein nach würden die nächsten Wochen noch eine aufreibende Zerreißprobe
werden. Da war es wirklich ein Geschenk, dass der Garten auch ohne eine pflegende Hand prachtvoll gedieh. Während Ella umherspazierte, stellte sie fest, dass ihr nichts einfiel, was man an diesem Schätzchen hätte verbessern können. Die Beete voller blühender Stauden quollen über ihren vor langer Zeit gesetzten Rahmen, die Kronen der Bäume konnte kein Gärtner kunstvoller in Form bringen, und selbst den verwilderten Ecken, von denen es mehr als genug gab, wohnte mit ihren Farnwäldchen etwas Malerisches inne.
Genau zu einem solchen Flecken zog es Ella nun hin. Schon als Mädchen hatte sie die
Kletterrosen, die den Spaliergang seitlich der Villa überwucherten, für ihre unzähligen cremefarbenen Tupfen bewundert. Gleiches galt für die Seerosen auf dem Teich, die wie fragile Porzellangebilde aussahen, und die lieblich duftenden wilden Erdbeeren, die überall im Garten ein Zuhause gefunden hatten. Alles, was blühte, war wunderschön, aber noch lieber waren Ella jene Pflanzen, die unter dem Schattendach der hohen Bäume wuchsen, deren Grün tief und satt war, nur gelegentlich durchbrochen von sich allmählich rot färbenden Beeren und winzigen weißen Blüten. Orte, an denen selbst das Vogelgezwitscher gedämpft klang und trotz der Sommerwärme feinste Tautropfen in der Luft schwebten. Versteckte Orte, an denen man, sobald man sie einmal gefunden hatte, wieder zehn Jahre alt war und der besten Freundin bedeutete, die Stimme zu senken, um den Zauber nicht zu zerstören. Wenn man ganz leise war, konnte man manchmal etwas hören, wie fernen Gesang, oder sah das Aufblitzen von etwas Geheimnisvollem, das für eine Sekunde durch die Blätter brach. An diesen Orten hatten Ella und Nora entdeckt, dass der Garten der alten Villa im wahrsten Sinne ein verzauberter Hain war, an dem wunderbare Dinge geschehen konnten, wenn man nur achtgab.
Doch an diesem Tag wollte sich die Magie nicht offenbaren. Selbst der vor langer Zeit umgestürzte Baumriese mit seinem hohlen Bauch, der ihr früher stets Unterschlupf geboten hatte, war jetzt nicht mehr als verrottendes Holz. Vermutlich war Ella zu laut aufgetreten oder hatte nicht recht daran geglaubt, dass es ihr gelingen würde, die Pforte in ihre Kindheit und damit in den Zaubergarten aufzustoßen. »Wie soll das auch ohne Nora gelingen?«, fragte sie sich, wobei sie einen Zweig zwischen ihre Finger gleiten ließ. Sie waren bei derartigen Streifzügen stets zu zweit, und ihr aufgeregtes Flüstern hinter vorgehaltenen Händen
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