Dämonen-Reihe Bd. 4 Traumsplitter
herunterzuschlucken. Denn im Vergleich zum Neues aus Sandfern war die Hunter Valley Press kein Blättchen, sondern einen ziemlichen Tick größer als Boysens Lebenswerk, das ihr Vater gern als ein »Gemisch aus Kuchenrezepten und Tingeltangel-Terminen mit einen Hauch Lokalpolitik« bezeichnete.
Allerdings war jetzt gewiss nicht der richtige Zeitpunkt, darauf hinzuweisen.
»Ich freue mich wirklich, dass Sie mir eine Chance geben wollen, Harold. Ich habe einige Arbeiten von mir …«
Weiter kam Ella nicht, denn Boysen unterbrach sie mitten im Satz. Darin hatte er
zweifelsohne Übung. »Wir brauchen eine Prise frischen Wind in unserem Blatt. Die junge Leserschaft wächst nicht so nach, wie ich es gern hätte. Darum gibt es jetzt eine
Verjüngungskur. Hab auch schon die passende Idee, eine neue Wochenrubrik: Küstenjungs und Badenixen .« Er blickte Ella erwartungsfroh an, die außer einem »Aha« jedoch nichts hervorzubringen wusste. »Nette Jungs und Mädels aus Sandfern und Umgebung. Ich sehe
ein sexy Foto mit ein paar Zeilen drunter vor mir: Hauke, 23, liebt Spaziergänge am Pier, seinen Einsegler und ist immer noch auf der Suche nach der passenden Nixe.«
»Wunderbar«, sagte Ella erleichtert. »Porträts sind mein Ding, da habe ich einige für die Hunter Valley Press gemacht. Sogar eins von einem Schaf. Einem berühmten Schaf.«
Boysen zündete sich eine neue Zigarette an und blickte sie durch den Rauch an. »Nicht bloß Porträt. Da soll schon ein bisschen mehr zu sehen sein, wenn du verstehst, was ich meine. Deutlich mehr. Halt Seite drei, richtig? Fred, unser Fester, hatte da keinen Nerv darauf, der findet die Idee Mist. Was soll’s. Und damit wir bei der Rubrik nicht den Vorwurf zu hören bekommen, sexistisch zu sein, starten wir mit einemKerl. Hab da schon einen Burschen am Wickel. War gar nicht so leicht, jemanden zu finden, der sich ausziehen will.
Trotz seiner hundertfünfzigtausend Einwohner ist Sandfern ist eben ein Kaff, wenn es hart auf hart kommt. Na ja, wenn die Rubrik erst einmal ein Erfolg ist, wird das schon laufen. Und damit hättest du deinen ersten regelmäßigen Job bei uns. Also, bist du dabei, Johansen?«
-
Die breite Terrasse der Villa war vollständig von Sonnenschein überflutet, weshalb Ella sich in den Schatten unter die Kastanien zurückzog. Hier war der Boden weich vom Moos, sodass die Schritte federten und Ella die von Sören zurückgelassene Picknickdecke eigentlich gar nicht als Unterlage hätte mitbringen müssen. Alle Anspannung des Tages abwerfend, lehnte sie sich gegen einen Baumstamm von einem solchen Umfang, dass es drei Ellas gebraucht hätte, um ihn zu umarmen. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, ob sie es einfach tun sollte –
den alten Baum umarmen –, aber dann beherrschte sie sich. Der Garten würde ihr auch so dabei
helfen, ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden, ohne dass sie zu seltsamen
Praktiken griff. Ganz entspannt im Hier und Jetzt, betrachtete sie das flirrende Lichtspiel, das die Blätter auf den Boden warfen, und überließ ihre Wahrnehmungen den vielfältigen
Gerüchen und Geräuschen. Dann holte sieihr Handy hervor und wählte die Nummer ihrer
Eltern. Nacheineinhalb Klingeltönen wurde angenommen.
»Moin, du Nestflüchter«, begrüßte ihr Vater sie gut gelaunt. »Sitzt du gerade in einem schicken Restaurant am Hafen über deinem Mittagessen? Gott, ich würde meine Seele für einen anständigen Hering geben.«
In dieser Sekunde fiel Ella schlagartig wieder ein, was sie vergessen hatte: etwas
Ordentliches zu essen. Als wäre sie nicht schon knochig genug. »Viel besser, ich sitze in Tante Wilhelmines Garten unter einer dieser Riesenkastanien und versuche zu relaxen. Sag mal, findest du Leute komisch, die das brennende Verlangen verspüren, einen Baum zu
umarmen?«
Das tiefe Lachen ihres Vaters hallte aus dem Handy, sodass Ella ganz warm ums Herz
wurde. »Irgendwelche Leute: ja. Dich allerdings: nein. Bei dir ist Baumumarmen ein
natürlicher Bestandteil deiner Persönlichkeit, vor allem in Tante Wilhelmines Garten. Da hast du dich ja schon immer heimisch gefühlt.«
Wie gut, dass ihr Vater neben vielen anderen Sachbüchern auch eins über Empathie
verfasst hatte. Dadurch ging er mit ihren Eigenarten ganz anders um als ihre eher praktisch veranlagte Mutter. Zwar hätte Ella es nicht zugegeben, aber sie war froh, den stets
einfühlsamen Eike Johansen am Telefon erwischt zu haben. Bei ihm durfte sie Schwäche zeigen, allerdings nicht
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