Dämonen-Reihe Bd. 4 Traumsplitter
Weg zu diesem Traum zu finden, war ein Kinderspiel gewesen. Kein einziges
Hindernis hatte sich ihm in den Weg gestellt. Es war fast wie in der realen Welt gewesen, in der die Eingangstür der Villa ebenfalls weit aufgestanden hatte, um ihn einzulassen.
Eben noch lief er, leise vor sich hin summend, durch einen dunklen Gang des Labyrinths, und im nächsten Moment schon verwandelte dieser sich in den Flur im Obergeschoss der alten Villa. Er ließ sich Zeit damit, die Stimmungen des
alten Gebäudes in sich
aufzunehmen, den Geschichten nachzuhängen, von denen es in dieser Zwischenwelt
erzählte. All die längst verblassten Träume, denen hier einst nachgehangen worden war.
Immer wieder blickte er auf seine nackten Füße, die den Boden berührten und doch kein Geräusch verursachten. Betrachtete seine ausgestreckte Hand, auf deren Rücken sich ein feiner Schweißfilm abzeichnete, der das einfallende Mondlicht jedoch nicht reflektierte, als wäre er nicht mehr als eine Schimäre oder ein umherhuschender Schatten.
Aber er war da.
Und er sah alles.
Fühlte es.
Da, hinter der verschlossenen Tür der frisch bezogenen Schlafkammer, pochte das Herz dieses Hauses. Eine Lichtquelle der ganz besonderen Art, die ihn anlockte. Ja, er konnte dem feinen Strahlen, das durch die Türritzen und durch das Schloss drang, nicht
widerstehen. Obwohl er vielleicht widerstehen sollte … Dieser Gedanke kratzte unentwegt an Gabriel, seit er sich zu diesem Besuch entschlossen hatte. Die Ahnung, dass es verkehrt war, in einen solchen Traum einzudringen, sondern ihn so zu belassen, wie er war, nämlich ein in sich geschlossenes Universum. Natürlich war das Unsinn. Er würde ein Fremdkörper sein, das stimmte. Aber ganz gewiss keiner, der einen ernst zu nehmenden Schaden
anrichtete. Ein Traum, der so leuchtend strahlte, dass man es sogar am helllichten Tag noch wahrnehmen konnte, war schließlich kein fragiles Gebilde. Er zerbrach nicht gleich, nur weil man sich ihn ein wenig ansah … und mehr zu tun, hatte Gabriel ja keineswegs vor.
Zumindest versprach er sich das, als er den kunstvoll verzierten Türgriff herunterdrückte und in die Kammer trat.
Ella schlief bäuchlings auf einer Picknickdecke am Boden, wie ein liebevoll angerichteter Mitternachtshappen. Das Laken, das als Decke diente, hatte sie wegen der Wärme längst beiseitegestrampelt. Sie lag in einem Trägershirt und einem Slip da, auf dessen Rückseite ein Comic-Bunny bis über beide Ohren grinste.
Ohne Zögern ging Gabriel neben der Decke auf die Knie und streichelte ihr über das Haar, das an der Schläfe leicht verschwitzt war. Dann sah er sich ihren Traum an.
Ein Dachboden, gegen dessen Luke dicke Regentropfen prallen. Es ist die Melodie eines lustigen Liedes. Ein Mädchen, dem das dunkle Haar über die Schultern fällt, dreht sich in einem viel zu großen Abendkleid um die eigene Achse. Ich muss lachen, und es klingt wie schillernde Tropfen, die emporfliegen. Hoch hinauf, immer weiter …
Wechsel.
Viele Schafe stampfen mit ohrenbetäubendem Getöse über vertrocknetes Land. Ein Ruf erschallt aus weiter Ferne. Nein, es ist ein Donner, der bloß wie eine Männerstimme klingt.
Papa sagt, ich soll zu ihm kommen. Ganz schnell. Ich laufe … tapp tapp. Der Boden bricht.
Gabriel zog die Hand wieder zurück, und augenblicklich versiegte der Ansturm von
Eindrücken, die das schlafende Ich der jungen Frau durchspielte.
»Ella, du hast lang genug von vergangenen Dingen geträumt. Jetzt komm zu mir«, forderte er mit leiser Stimme.
Tatsächlich setzte Ella sich auf. Zumindest ein Teil von ihr. Der andere blieb auf der Picknickdecke liegen. Sie ignorierte Gabriels angebotene Hand und stand allein auf. Nach ausgiebigem Recken und Strecken blinzelte sie ihn verschlafen an.
»Ich werde gar nicht richtig wach. Die Hitze macht mich fertig.«
»Lust auf einen Spaziergang?«
»Ja.«
Einen Augenblick verharrte Ella, als hätte sie bereits vergessen, was Gabriel
vorgeschlagen hatte. Dann machte sie kehrt und ging geradewegs durch die Hauswand ins Freie, um schwerelos und mit schnellen Schritten in den Garten zu sinken.
Gabriel trat ans Fenster und beobachtete, wie sich der Garten, den er sich bei seinem ersten Besuch nur flüchtig angesehen hatte, veränderte. Während Ella sich ihm näherte, begann er zu wachsen. Dabei dehnte er nicht nur seine Grenzen aus, indem er wucherte, sich verdichtete und verwandelte, sondern wurde wortwörtlich »mehr«, denn es tauchten
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