DÄMONENHASS
nicht warten, bis du dich ausgeruht hast? Schließlich hast du keine Beweise, nicht wahr? Ich meine, du bist dir nicht sicher, oder?«
Nestors Kopf fühlte sich leicht an, ihm war schwindlig. Er fragte sich: Beweise wofür? Wessen war Lardis sich nicht sicher? Vielleicht war Lardis doch müde – oder vielleicht krank? Immerhin starrte er Andrei aus brennenden Augen an, blickte dann auf die murmelnde Menge, hob schließlich eine zitternde Hand an die schweißbedeckte Stirn. Doch nein, krank war er nicht, denn im nächsten Augenblick wetterte er schon wieder los.
»Die Palisaden!«, schrie er und stapfte in ihre Richtung. »Ihr habt auf allen vier Seiten Tore hineingeschnitten. Nur stehen sie schon so lange offen, dass sie sich verzogen haben und sich nicht mehr schließen lassen. Und seht euch nur die großen Bolzenschleudern und die Katapulte an!«
Er verfiel in einen stolpernden Laufschritt, rannte die morschen Holzstufen am Zaun hinauf und zog an den Lederriemen eines Katapults, dessen Wurflöffel ihn noch überragte. Binnen eines Augenblicks war das verfaulte Leder in seinen starken Händen zu schimmligen Fetzen zerfallen. Angewidert ließ Lardis den Staub durch die Finger rieseln und sah sich um. Sein fiebriger Blick fiel auf die ausgefransten Zugseile, die von dem Schleuderarm hingen. Dann ließ er sich unter Lebensgefahr an ebendiesen Seilen wieder hinab zur Erde gleiten.
»Oh, mein Gewicht halten sie schon aus«, schnaubte er, als er unten aufsetzte. »Aber glaubt ihr, sie werden dem Zug standhalten, um den Kübel da gegen sein Kontergewicht herunterzuziehen, he? Das kann ich euch gratis sagen: Sie halten es nicht aus!«
»Lardis!« Andrei hatte es aufgegeben, vernünftig mit ihm reden zu wollen, und seine Stimme klang nunmehr rauer, zorniger – vielleicht auch traurig. »Mann, ich glaube nicht, – ich meine, es kommt mir so vor, als wärst du ... als wärst du nicht mehr verantwortlich!«
Lardis hatte sich abgewandt und strebte dem Südtor zu. Andrei folgte ihm noch immer und rief: »Lardis, bestehst du darauf, recht zu haben? Aber, Mensch, das kannst du nicht! Das darfst du nicht!« Die Menge, die sich die Auseinandersetzung nicht entgehen lassen wollte, folgte den beiden wie ein Schatten. Doch offenbar war etwas von dem, was Andrei gesagt hatte, endlich zu Lardis durchgedrungen. Was? Was hatte er gesagt? Dass Lardis Lidesci nicht länger verantwortlich war? Meinte er damit etwa ›nicht ganz bei Verstand‹? Lardis wurde langsamer, verhielt und drehte sich um.
Als Andrei ihn einholte und weiter, nun geradezu flehend, auf ihn einredete, holte Lardis aus und streckte ihn mit einem einzigen Schlag nieder. Dann wandte er sich ab und ging mit schnelleren Schritten – aber stolpernd, wie ein gebrochener Mann – zum Südtor und dem dahinter liegenden Wald. Und diesmal ließ die Menge ihn ziehen.
Nestor schüttelte den Kopf, einerseits vor Erstaunen und andererseits, um den Nebel daraus zu vertreiben. Der Wein hatte sich wie eine Decke über sein Hirn und seine Zunge gebreitet. Alkohol mochte zwar die Sinne betäuben und den Verstand ausschalten, aber er entflammte auch die Leidenschaften.
Nestor war betrunken und erregte sich ob der Ereignisse, die doch gewiss den Anfang vom Ende für Lardis Lidesci bedeuteten, seinen Abstieg und Sturz – und den Aufstieg seines schwächlichen Sohnes Jason? Nestors Erregung stieg bei dem Gedanken an ...
... »Misha!« Er sprach ihren Namen laut aus, drehte sich um und stieß mit jemandem zusammen. Der andere, ein Junge, den er kannte und dessen Gesicht nur ein stirnrunzelnder, verschwommener Fleck war, bewahrte ihn vor dem Stolpern und sagte: »Misha? Ich habe sie vorhin gesehen, sie ist zum Haus eurer Mutter gegangen, glaube ich. Sag mal, was hältst du eigentlich von ...«
Aber Nestor hatte keine Zeit zu verlieren. Er wartete nicht ab, was der Junge zu sagen hatte, stieß ihn beiseite und machte sich stolpernd auf den Weg zu den Häusern, die im Westviertel der Einfriedung dicht gedrängt im Schatten des Zaunes und des Wachturms standen. Eines dieser Häuser war ihm ein Zuhause gewesen, seit er denken konnte, doch vielleicht war das nicht länger der Fall.
Der starke Wein schwappte in seinem Magen. Ähnlich aufgewühlt waren die Gedanken in seinem umnebelten Schädel:
Misha im Haus seiner Mutter ... Wer war sonst noch dort? ... Doch wohl kein anderer als Nathan! ... Die beiden zusammen wie ein Liebespaar, das sich nach langer Trennung wieder findet.
Nun,
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