DÄMONENHASS
dennoch musste er es, denn in Siedeldorf hatte er einen Eid gegen die Wamphyri geschworen und besonders gegen Canker. Obgleich sein Inneres sich zusammenkrampfte, entwich seiner Kehle dennoch ein leises Knurren, als er sein Bild vor seinem geistigen Auge heraufbeschwor! Oh ja, sein Schwur galt nun doppelt, wenn nicht dreifach; denn die Wamphyri waren auch für das, was immer mit seiner Mutter geschehen war, und für die Trennung von seinem Bruder verantwortlich. Was Letzteres anging ... konnte er nur hoffen, das diese Trennung nicht von Dauer war.
Es war so entsetzlich, so furchtbar, dass er sie alle verloren hatte – seine Mutter, Misha und Nestor. Er wusste nicht und wollte auch gar nicht wissen, welche Auswirkung der Tod seines Bruders auf ihn haben würde, aber er vermutete, dass es dem Verlust eines noch größeren Teils seiner selbst gleichen würde – vielleicht sogar des letzten verbliebenen Teils.
Denn er und Nestor hatten sich den Schoß und die Milch ihrer Mutter geteilt und die Liebe ein und desselben Zigeunermädchens – auch wenn sie den einen wie einen Bruder und den anderen um seiner selbst willen geliebt hatte. Aber ihr Blut war eins, und selbst ihre Gedanken schienen aus dem gleichen Stoff gemacht zu sein. Wenigstens waren sie sich ähnlich genug, dass sie sich manchmal berühren konnten.
Genau das hatte Nathan jetzt vor. Er wollte den Geist seines Bruders berühren und dadurch Gewissheit erlangen, dass er noch lebte. Und wenn er dort nichts fand, nur eine Leere? Dieses Risiko musste er eingehen – entweder wieder ein Teil zu sein von etwas, das zumindest früher ganz gewesen war, oder noch leerer zu sein als die Hülle, die er gegenwärtig bewohnte.
Da ihm diese und andere Gedanken durch den Kopf wirbelten und seinen Verstand geradezu umnebelten, war dies kaum der beste Zeitpunkt für ein derartiges Experiment. Trotzdem entfernte Nathan sich ein Stück vom Pfad, ließ sich mit dem Rücken gegen einen Felsen gelehnt nieder, schloss den Tag aus, seine heftige Abscheu gegen die nächtlichen Banditen, alle anderen Gefühle, einfach alles, und ließ seinen Geist treiben ...
Die Toten wichen vor ihm zurück!
Er spürte ihr Erschrecken, ihr Grauen. Doch diesmal war Nathan – wie er hoffte – an den Lebenden interessiert. Hoch auf den Hügeln stellten sich grau bepelzte Ohren auf, und in düsteren Höhlen glommen dreieckige Augen. Dort waren drei beieinander, die seine Gedanken so gut kannten, als seien es ihre eigenen: Blesse, auf dessen Stirn das weiße Zeichen seiner Mutter prangte, Grinser, dessen feuchte, schwarze Lefzen ständig zuckten, als wolle er ein Lächeln zurückhalten; Stutz, dem der Schwanz gekürzt worden war, als er noch ein Welpe war und mit dem Wurf einer mutigen Füchsin spielen wollte.
Sogleich errieten sie Nathans Absicht, aber diesmal konnten sie ihm nicht helfen. Denn keiner von ihnen strich bei Tag umher, und sie hatten nichts Neues von Nestor erfahren. Nachts wäre es vielleicht etwas anderes gewesen. Aber nicht jetzt.
Nathan grüßte sie dennoch, worauf sie ein wenig winselten, sich wieder zusammenrollten und weiter ihren Betrachtungen nachhingen. Und er ließ seine Gedanken weiterschweben, weitertreiben ...
... bis sie auf ein Bewusstsein trafen, das er kannte und doch auch wieder nicht! Es erschien ihm anders, verändert, wie ausgelöscht. Allerdings nicht sauber ausgelöscht, sondern eher so, als habe jemand mit einem schmutzigen, blutverschmierten Lappen darübergewischt. Es war Nestor, und doch war er es nicht.
Nathan konnte das nicht verstehen. Es schien, als wisse Nestor selbst nicht, wer er war! Und in seinem Innern brodelte eine gewaltige Wut, die sich aus Schmerzen, Enttäuschung, Not, Ehrgeiz, Verlust und neu Entdecktem zusammensetzte!
Nathan war so erschrocken, dass er vor dem Fremden zurückschrak, der sein Bruder war – und sich ruckartig gegen den Felsen aufsetzte!
Sämtliche Gedanken kamen wie geprügelte Hunde wieder zurückgeschlichen und stürzten ihn in nur noch größeren
Aufruhr, als er seinen Weg nach Osten fortsetzte ...
Nestor schlief, und sein Körper schöpfte neue Kraft aus der Nahrung, die er zu sich genommen hatte. Im Schlaf durchwanderte er ein zartes Traumgespinst – das in dem Augenblick zerriss, als das fremde Wesen in seinen Geist eindrang!
Fremd, ja, und ein verhasster Feind! Er erkannte ihn an dem Mahlstrom aus Zahlen, Zeichen, bedeutungslosen Gleichungen und mathematischen Formeln, hinter denen das Wesen seine
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