Dämonenherz
einigermaßen betretbar zu sein. Also hatte sich Anna darauf beschränkt, was aus ihrer Sicht das Wichtigste gewesen war: Reden, Zuhören, Einkaufen, Kochen. Um dann mit schlechtem Gewissen wieder zurück in die Stadt zu fahren.
Dieses Mal würde sie länger bleiben. Sie hatte Vicky noch eine Nachricht auf dem Schreibtisch hinterlassen, die Tür des Büros abgeschlossen und war mit dem nagenden Gefühl, dass sie vielleicht nie mehr zurückkehren würde, die Treppen hinuntergestiegen. Eine Nacht hatte sie bereits in diesem Hexenhäuschen verbracht und sich gefragt, wie es in ihrem Leben weitergehen sollte. Da weder das Leben noch sonst irgendjemand bereit war, ihr darauf eine Antwort zu geben, hatte sie sich entschlossen, ihren Besuch so lange auszudehnen, bis sie es wüsste.
»Vier Wochen ist das schon her?« Verwundert sah Friedrich Sternberg auf seine Tochter. »Die Zeit vergeht so schnell … Ich wollte eigentlich noch Bucheckern sammeln. Es war ja ein schönerSommer dieses Jahr, da werden sie gut tragen. Und die Steinpilze müssten jetzt auch schon da sein. Willst du mitkommen?«
Anna schüttelte den Kopf. Es gab einfach viel zu viel zu tun. Gestern hatte sie bereits begonnen, in der Küche aufzuräumen. Dabei waren ihr stapelweise ungeöffnete Briefe in die Hand gefallen, die sie am Abend mit ihrem Vater einzeln besprechen wollte. »Heute nicht. Ich werde mal in den Garten gehen.«
»Ja ja. Ruh dich aus. Du bist ein bisschen blass um die Nase.«
Als Friedrich Sternberg wenig später das Haus verließ, ging Anna in den Schuppen mit den Arbeitsgeräten und schlüpfte im Halbdunkel der Bretterwände in einen Overall und Arbeitsstiefel, wählte eine Heckenschere, die Laubharke und eine Schubkarre und begann mit der Arbeit. Der kleine Garten war einmal ein Paradies gewesen, das sah man ihm sogar in diesem halbverwahrlosten Zustand noch an. Verließ man das Haus durch den Hinterausgang, trat man direkt auf eine kleine Terrasse, über der an einer hölzernen Pergola der Wein wuchs. Efeu schlängelte sich von den Hausecken über die Wände bis hoch unter das niedrige Dach. Der alte Kirschbaum stand immer noch in der hinteren Ecke des Gartens, und während Anna den verdorrten Brombeerbüschen und ihren Trieben zuleibe rückte, fiel ihr Blick auf die Reste des Baumhauses, das ihr Vater vor langer Zeit einmal dort oben zwischen den starken Ästen errichtet hatte.
Mit einem Mal packte sie die unbändige Lust, auf den Baum zu steigen. Immerhin hatten das die Menschen vor zwanzigtausend Jahren mehrmals täglich gemacht. Warum verschwanden solche Vergnügungen eigentlich aus dem Leben, sobald man glaubte, erwachsen geworden zu sein?
Sie fand die alte Holzleiter, verkantete sie in den Ästen, setzte, nur zur Probe, einen Fuß auf die erste Sprosse. Sie hielt. Vorsichtig kletterte sie weiter, bis sie die Bretter des Baumhauses erreichte. Sie suchte sich den Ast, der am vertrauenerweckendsten wirkte, hielt sich an ihm fest und zog sich hoch. Geschafft! Vor sichtigsetzte sie einen Fuß auf das erste Brett. Plötzlich begann die Leiter zu schwanken.
»Hilfe!«
Sie hielt sich an dem Ast fest. Ihr linker Fuß verlor den Halt, die Leiter kippte erstaunlich langsam nach vorne. Sie blieb eine Sekunde lang senkrecht in der Luft stehen, als könnte sie sich nicht so richtig zwischen Anna und dem freien Fall entscheiden, neigte sich dann gemächlich und fiel mit lautem Krachen auf den Boden. Anna hing in der Luft.
»Hilfe!«
Auch der Ast schien Annas Anwesenheit nicht sonderlich zu schätzen. Es war ein knorriger, alter Baum, und Anna wusste, dass solche Äste sich nicht neigten, sondern brachen.
Sie hob die Knie und schwang zurück, wobei der Ast bedenklich knarrte, holte aus und landete mit beiden Füßen auf den Brettern, rollte sich ab und blieb schwer atmend liegen. Die ganze Baumkrone schwankte. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, an Deck eines untergehenden Schiffes zu liegen, dann beruhigte sich das Geäst.
Vorsichtig stand sie auf, immer mit der Hand Richtung Baumstamm, bis sie einen dickeren Ast zu fassen bekam und einen Blick über den Gartenzaun werfen konnte.
Was sie sah, erschreckte sie zutiefst. Die Baustelle des neuen Einkaufszentrums war schon so nah an die einstige Gartensiedlung herangekommen, dass ihre Zufahrten und Container das frühere Idyll umarmten wie eine riesige Krake. Die Gärten und Häuser ringsum schienen schon längst unbewohnt und aufgegeben. Jetzt erst erinnerte sie sich daran, dass der
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