Dämonenherz
verwahrloste Eindruck, der sich in den letzten zwei Jahren immer mehr eingeschlichen hatte, sich nicht nur auf das Haus ihres Vaters bezog. Die Siedlung war leer. Der Einzige, der noch in seinem Haus lebte, schien ihr Vater zu sein. Warum hatte er ihr nie etwas davon erzählt?
Weil du nicht zugehört hast, gab sie sich selbst zur Antwort. Natürlich war ab und zu von dem großen Einkaufszentrum die Redegewesen. Doch immer, wenn die Sprache darauf gekommen war, hatte ihr Vater es als Bereicherung und nicht als Bedrohung dargestellt.
»Dann muss ich nicht mehr so weit zum Einkaufen gehen«, hatte er gesagt.
Sie lugte wieder durch das Geäst und versuchte, einen Blick auf die schmale Straße hinter dem Haus zu erhaschen. Alles, was sie sah, war ein langer schwarzer Schatten.
Nein. Das konnte nicht wahr sein. Nicht jetzt. Nicht hier.
Das satte Geräusch einer zuschlagenden Autotür überzeugte sie, dass sie nicht halluzinierte. Ein großer Wagen hatte vor der Gartentür ihres Vaters gehalten. Jemand musste ausgestiegen sein, denn in dieser Sekunde ertönte der melodische Gong, der im Haus Besucher ankündigte.
Bitte nicht, dachte sie.
Hektisch sah sie sich um, aber die Möglichkeit zu einer ebenso plötzlichen wie stilvollen Rettung tendierte immer noch gegen null. Es sei denn, sie beschloss, sich mit einem beherzten Sprung das Genick zu brechen.
»Anna?«
Ihr Vater musste gemeinsam mit dem Besucher zurückgekommen sein.
»Anna? Wo bist du?«
Für jemanden, der eben noch um Hilfe gerufen hatte, duckte Anna sich ziemlich weit nach unten. Sie konnte erkennen, dass ihr Vater ratlos ein paar Schritte auf die Terrasse trat und sich umsah.
»Eben war sie noch hier.«
Er drehte sich um und sprach in Richtung Hintertür. Anna konnte immer noch nicht erkennen, mit wem er redete, aber sie ahnte es. Es war, als ob die Luft plötzlich elektrisch geladen war und ein Funke reichen würde, das explosive Gemisch zu entzünden.
Geh weg, dachte sie. Wag ja nicht, hier rauszukommen und mich auf dem Baum zu finden. Doch der Besucher hatte entwe der nichtvor, Gedanken zu lesen, oder er beschloss einfach, sie zu ignorieren. Er trat hinter ihrem Vater aus der weinumrankten Pergola hervor und sah sich um.
Sein Anblick war so unerwartet und verwirrend, dass Anna einen Moment vergaß zu atmen. In der Hoffnung, dass er sie hinter der grünen Wand aus Ästen und Blättern nicht sehen konnte, tastete ihr Blick seine Gestalt von oben bis unten ab, als wolle sie jedes einzelne Detail speichern, um sich zu einem späteren Zeitpunkt umso deutlicher daran zu erinnern.
Weller sah aus, als ob er gerade seinen zweihundert Trägern befohlen hätte, die Safarizelte aufzuschlagen und ihm das Gewehr zu reichen, um auf Löwenjagd zu gehen. Er trug beige Chinos, die er in kniehohe Stiefel gesteckt hatte, dazu ein blütenweißes Hemd. Er sah gleichzeitig verwegen und vertrauenerweckend aus.
Wellers Blick scannte den Garten gründlich und schnell. Als er hinüber zu dem alten Kirschbaum sah, hatte Anna das Gefühl, dass für den Bruchteil einer Sekunde ein verräterisches Lächeln über sein Gesicht zuckte. Aber vermutlich hatte sie sich getäuscht, denn sofort wandte er sich, die Hände burschikos in den Hosentaschen, an ihren Vater.
»Weit kann sie ja nicht sein. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich hier auf sie warte?«
»Aber nein!«
Anna glaubte, sie hätte sich verhört. Ihr Vater war nach dem Tod ihrer Mutter Fremden gegenüber so misstrauisch geworden, dass er meistens gar nicht mehr öffnete, wenn jemand unangekündigt klingelte. Dass er Weller so ohne Weiteres auf seinen Grund und Boden gelassen hatte, musste einiges heißen. Dass er ihm aber erlaubte, hier auf sie zu warten, das ging sogar Anna zu weit.
»Möchten Sie vielleicht eine Tasse Bahndammtee?«
Gott, Papa! Dieser Mann trinkt vielleicht Morgentau aus der Wüste Gobi, aber doch nicht …
»Bananentee?«
Siehörte den leicht amüsierten Klang in Wellers Stimme. Wenn er es jetzt wagte, sich über ihren Vater lustig zu machen, war er geliefert.
»Nein, Tee vom Bahndamm. Dort pflücke ich ihn immer.«
Er rückte zwei Holzklappstühle, die eigentlich schon im letzten Jahr verfeuert hätten werden müssen, an den runden Gartentisch und strich symbolisch mehrere Male über die Wachstischdecke. Kiefernnadeln, tote Insekten und Staub rieselten herab.
»Das ist meine Hausmischung. Meiner Tochter schmeckt er nicht so gut. Ist eher was für Männer, die Kräftiges gewohnt
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