Dämonenherz
und als sie ihn nicht sofort fand, klopfte sie hektisch all ihre Taschen ab. Wo war er? Sie brauchte diesen Stein! Jetzt! Sofort!
Durch ein Loch im Futter war er in den Saum gerutscht. Anna berührte ihn durch den Stoff und spürte sofort, dass sie ruhiger wurde. Ihr Puls verlangsamte sich. Das schlimme Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, verflog. Sie biss die Zähne zusammen, schloss die Augen, umklammerte den Stein und versuchte, rückwärts von zehn bis eins zu zählen. Dann fühlte sie sich stark genug, um zu handeln.
Sie nahm die Mappe und legte sie in die Kassette. Damit ging sie zu einem gewaltigen Steintresen an der Stirnseite des Tresorraums. Vor ihr stand eine Schlange, und Anna wartete geduldig, bis sie an der Reihe war.
Einälterer Herr mit Ärmelschonern und Schirmmütze nahm ihr die Kassette ab. Er warf einen Blick auf die Kennziffer.
»In die Registratur?«, fragte er, und Anna nickte.
»Dann quittieren Sie bitte.«
Er wies auf eine quadratische Kachel, die in die Platte eingelassen war. Anna legte ihre Handfläche darauf, so wie sie es bei ihren Kollegen gesehen hatte. Damit war ihre Aufgabe beendet, sie konnte gehen.
Im Aufzug drückte sie nicht auf den fünfunddreißigsten Stock, sondern auf das Erdgeschoss. Sie konnte jetzt noch nicht zurück. Sie musste an die frische Luft und erst einmal einen klaren Kopf bekommen.
Anna verließ das Haus, ohne dass sie jemand daran gehindert hätte, und landete wenig später in der Taunusanlage, einem kleinen Park für Büroangestellte, die trotz des frühen Herbstes die Hochhäuser ringsum verlassen hatten und ein paar Schritte spazieren gingen. Sie setzte sich auf eine Bank und beobachtete die Enttäuschung der Tauben, die wohl mit mehr gerechnet hatten als dem, was Anna ihnen zu bieten hatte: einen äußerst deprimierten Anblick.
Meine Güte, was war da unten bloß mit ihr passiert? Sie musste diese Papiere noch nicht einmal verstehen. Allein der bloße Anblick reichte, um völlig außer sich zu geraten. Wahrscheinlich war es Vicky ebenso ergangen. Das war nicht ihre Freundin gewesen, die so mit ihr gesprochen hatte. Das war ein gieriges, egoistisches Monster, in das sich offenbar jeder verwandelte, der mit diesen geheimnisvollen Verträgen zu tun hatte. Gott sei Dank hatte Anna im letzten Moment die Reißleine ziehen können.
Sie fummelte und wühlte so lange an und in ihrer Jacke herum, bis sie den Stein in der Hand hielt. Lange sah sie ihn an.
Danke, Papa, dachte sie. Danke, dass du so für mich da bist.
Und dann fiel ihr ein, dass ihr Vater Walzer tanzen konnte. Ein spitzbübisches Lächeln huschte über ihr Gesicht. Da konnte sie direkt einmal das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.
Wellerhatte nur gesagt, sie sollte tanzen lernen. Aber nicht, wo und von wem.
Sie stand auf und steckte den Kieselstein in ihre andere, unversehrte Tasche. Mit schnellen, entschlossenen Schritten machte sie sich auf den Weg. Sie ahnte nun, dass Wellers Erfolg ein Geheimnis hatte. Sie hatte es berührt. Vicky hatte es berührt. Sie würde nicht zulassen, dass dieses Geheimnis nach ihrem Herzen griff. Sie würde Weller zur Rede stellen. Und sie würde sich niemals vorschreiben lassen, wen sie zu lieben hatte.
15 .
L inks zwo drei! Rechts zwo drei!«
Die schöne blaue Donau verwandelte das kleine Haus inmitten der riesigen Baustelle in einen Ballsaal. Friedrich Sternberg hatte den Teppich im Wohnzimmer zur Seite gerollt und Anna beherzt an seine schmale Brust gedrückt.
»Wie in der Tanzstunde, erinnerst du dich noch?«
Er keuchte ein wenig, denn die ungewohnte Anstrengung machte ihm mehr zu schaffen, als er zugeben wollte. Auf dem Plattenspieler knisterte eine Aufnahme der Wiener Philharmoniker unter Herbert von Karajan – der einzige Dirigent, der sie jemals richtig im Griff hatte, wie Annas Vater betonte, um dann gleich weiter zu Furtwängler und dessen unbestreitbaren Vorzügen überzugehen. Erst als nach dem langen Vorspiel der bekannte Dreivierteltakt einsetze, hatte er sich geräuspert und seine Tochter mit einem formvollendeten Diener aufgefordert.
»Autsch!«
Friedrich Sternbergs Gesicht verzog sich schmerzerfüllt. Annas Fehltritt hatten seine Zehen in Mitleidenschaft gezogen – nicht zum ersten Mal.
»Entschuldige!« Mutlos ließ sie die Arme sinken. »Ich kann das nicht.«
»Donau so blau, so blau, so blau …«
Friedrich Sternberg hatte nicht vor, sich von Annas vorüber gehenderSchwäche aus dem Takt bringen zu lassen. Er walzte
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