Dämonenherz
viele Fragen, und es dauert gar nicht lange, bis Sie das ganze System verinnerlicht haben und sich hier wie zu Hause fühlen.«
Um nicht noch länger seinen penetranten Ratschlägen ausgesetzt zu sein, hob Anna die Aktentasche hoch.
»Und wohin nun damit?«
Sam griff nach der Tasche, aber Anna ließ sie wieder sinken. Etwas beleidigt zog Sam seine Hand zurück.
»Sie können mir die Dokumente ruhig anvertrauen.«
»Lieber nicht.«
Anna war erstaunt, wie problemlos ihr diese Ablehnung über die Lippen kam. Sam gab sich sichtlich Mühe mit ihr, aber sie fand ihn trotzdem unsympathisch. Auch wenn sich jede Frau unter neunzig alle zehn Finger nach so einem durchtrainierten Prachtexemplar ablecken würde, sie hatte schon seit einiger Zeit das Interesse an hübschen Männern mit falschem Lächeln verloren.
»Wie Sie wollen. Sie finden das entsprechende Regal unter der Landesvorwahl. Dabei geht es immer um den Gerichtsstand. Das heißt: Das Land, in dem der Vertrag unterzeichnet wurde.«
Sams Charme verschwand schlagartig. Er sah auf seine Armbanduhr. »Ich muss jetzt sowieso zum Mittags-Scan. Wir sehen unsim Casino. Siebzehnter Stock. Bringen Sie Appetit mit. Unsere Küche entspricht internationalem Drei-Sterne-Niveau.«
Eingebildeter Lackaffe, dachte Anna, während sie beobachtete, wie sein Rücken in der Menge verschwand. Einen Moment lang glaubte sie, in ihm ihren Verfolger aus Zürich wiederzuerkennen. Aber nein. Woher hätte er wissen sollen … Sie verwarf diesen Gedanken und ging die Regale ab, bis sie die Vorwahl der Schweiz gefunden hatte. Sie beobachtete, wo die anderen ihre Leerkassetten hernahmen, holte sich eine und stellte sich dann vor der Kabine zum Tresorraum an. Der Scan dauerte keine Sekunde, dann rollte die riesige runde Tür zur Seite, und sie durfte eintreten.
Im Gegensatz zu dem Geräuschpegel von Hunderten durcheinanderlaufenden Menschen draußen in der Halle war es hier angenehm ruhig. Sie beobachtete, wie die Frau vor ihr, eine dunkelhaarige Schönheit mit afrikanischem Teint, mit ihrer Kassette an eine Wandnische trat. Anna machte es ihr nach und suchte sich eine leere Ecke. Dann öffnete sie die Kassette, stellte sie ab und holte die Dokumentenmappe aus ihrem Koffer. Heimlich sah sie sich um. Niemand warf auch nur einen Blick auf das, was hier herausgeholt oder hineingetan wurde. Alle sahen aus, als hätten sie Diskretion noch vor dem Durchschlafen gelernt.
Vorsichtig strich Anna über den dunkelbraunen Ledereinband. Ein winziger Hauch Puderzucker blieb an ihren Fingerspitzen hängen. Vicky, dachte Anna. Was ist bloß passiert? Von diesen Papieren musste etwas Magisches ausgehen. Der Mandarin hatte daraus Kraft geschöpft. Und ihre Freundin hatte sich in ihre Feindin verwandelt. Was konnte das bloß sein?
Vorsichtig sah sie sich um. Alle um sie herum waren beschäftigt. Eilten hinaus oder kamen gerade herein, standen in ihren Nischen und werkelten an ihren schrecklich geheimen Kassetten herum. Niemand achtete auf sie. Anna holte tief Luft und öffnete ein letztes Mal die Mappe.
Die Schriftzeichen konnten Sanskrit sein. Verschnörkelt und altmodisch, offenbar mit Eisentinte auf dickes Bütten geschrie ben.Sie leuchteten geheimnisvoll im Halbdunkel. Anna kniff die Augen zusammen. Je länger sie auf die Buchstaben starrte, desto wütender wurde sie.
Wie konnte Vicky ihre Freundschaft nur so plötzlich beenden und zu Sandrine wechseln? Ausgerechnet Sandrine, von der ihre Freundin doch wusste, was für ein gemeines Biest diese Frau war. Und wie anders Vicky auf einmal ausgesehen hatte. Eleganter und schöner, irgendwie verändert. Na warte, dachte Anna und hob das Blatt hoch, um einen Blick auf die darunterliegenden Papiere zu werfen. Hochmut kommt vor dem Fall. Wir werden sehen, wer am Ende als Letzte lacht. Ich werde Karriere machen, da wirst du schon längst wieder in deinem Ein-Zimmer-Apartment sitzen. Ich werde so viel Geld verdienen, dass ich gar nicht mehr weiß, wie ich es ausgeben soll. Ich werde mir als Erstes ein neues Auto kaufen. Und dann eine Wohnung. Halt! Warum nicht gleich ein Haus? Da wäre Platz genug für mich und meinen Vater. Und das Personal, das sich um ihn kümmern wird, denn ich habe wirklich Wichtigeres zu tun, als mich auch noch damit zu belasten und mir tagaus, tagein die alten Geschichten …
Unter Aufbietung all ihres Willens schloss Anna die Mappe. Sie atmete keuchend ein und aus und lehnte die Stirn an die kühle Wand. Sie tastete nach dem Kieselstein,
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