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Dahoam is ned dahoam - Bayerische Ein- und Durchblicke

Dahoam is ned dahoam - Bayerische Ein- und Durchblicke

Titel: Dahoam is ned dahoam - Bayerische Ein- und Durchblicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schleich
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hochstilisierter »Führer« stand.
    Ob diese Überhöhung wohl auch funktioniert hätte, wenn man ihnen Filme von anderen Nazi-Parteitagen gezeigt hätte, den alten, die Hitler und seine Kumpane noch auf dem Marsfeld in München abgehalten haben?: den Oberkörper in Braunhemd mit Hakenkreuzbinde und quer über die Brust verlaufendem Lederriemen, von der Gürtellinie abwärts in kurzer Lederhose, Wadlstrümpfen und Haferlschuhen – oben Nazi, unten Trachtenverein.

    Wenn das der »Führer« wüsste – Picknick auf deutschem Muschelkalk
    Stumm, wie es sonst eher nicht unsere Art ist, steigen wir nebeneinander die mit »Muschelkalk aus allen Gauen des Reichs« belegten Stufen hinauf zu der wie ein Felsvorsprung aus dem steil ansteigenden Tribünenhang hervorspringenden Rednerkanzel. Hier also hat er in seiner braunen Uniform wild herumgestikuliert und seine hasserfüllten Plattitüden in ein plumpes Telefunken-Mikrofon hinein gebellt, der echte »große Diktator«. Hier, auf diesen paar Quadratmetern, deren Bodenplatten womöglich noch von Häftlingen in irgendeinem KZ gebrochen wurden, gerinnen einem die Witze dann doch noch auf dem Weg vom Hirn in den Mund, bekommt man plötzlich einen moralischen Schluckauf, den man auch dadurch nicht loswird, dass man sämtliche Kinohitler, die einem auf die Schnelle einfallen – von Charlie Chaplin und Mel Brooks über Bruno Ganz und Udo Kier bis hin zu Armin Mueller-Stahl und Helge Schneider –, mit deutschem Gruß vor dem inneren Auge vorbeiparadieren lässt.
    Hilfesuchend sehen wir uns nach etwas um, das uns wieder ins Nürnberg des Jahres 2012 zurückholt, und finden es schließlich in den unscheinbaren Pflanzen, die sich überall in die Spalten zwischen den Muschelkalkplatten gekrallt haben. Kamille, Löwenzahn, Flughafer, Ackerfuchsschwanz (»Unkrrrraut! Soforrrrt verrrnichten«, meldet sich eine schnarrende Stimme im Kopf) bilden mit Dutzenden anderer Arten ein sanft vegetatives Gegenprogramm zu den martialisch kantigen Formen der Quader, Stufen und Pilaster rings um uns. So richtig wird das nix werden mit den tausend Jahren, denken wir, das hier sieht verdammt nach den Vorboten einer gefräßigen Dschungelvegetation aus, die sich en passant mal eben ein paar Bauwerke einverleibt, ganz gleich, ob es sich dabei um yukatekische Maya-Pyramiden oder Nürnberger Nazi-Tribünen handelt.
    Mit der Entdeckung dieser kleinen, grünen Anarchisten kehrt auch unser Humor zurück. Während wir die Tribüne wieder hinabsteigen, deuten wir auf den von schwarzen Reifenspuren gezeichneten Asphalt des Norisrings und fragen uns, ob darunter wohl immer noch die alten Granitplatten liegen, die – wir Wikipedia-Gscheidhaferl wissen so was – exakt einen Meter zwanzig im Quadrat messen. Und den Grund für diese Bemaßung wissen wir natürlich auch: Weil ein Meter zwanzig genau zwei preußischen Stechschritten entspricht, und so erfinden wir flugs eine neue Maßeinheit für Entfernungen, die möglicherweise heute noch gelten würde, wäre das Nazi-Reich nicht schon nach 12 Jahren wieder am Ende gewesen. Die Entfernung zwischen Nürnberg und Berlin würde dann mit 721 preußischen Kilostechschritten angegeben, der Verkehr würde sich zu Stoßzeiten nur noch millistechschrittweise fortbewegen, und den Abstand der einzelnen Leiterbahnen auf einem Computerchip (Reichsdeutsch: zum Einbau im Schnellrechner vorgesehener Kleinstnachrichtenspeicher) würde man in Nanostechschritten messen.
    Am Fuß der Tribüne angekommen, gehen wir 200 preußische Stechschritte weiter zum Kiosk am Ufer des Dutzendteichs und besehen uns die Speisekarte, die hier die Form einer großen, mit schwarzen Folienbuchstaben beschrifteten Tafel hat. Urgermanisches Essen wie Nürnberger Rostbratwürste oder Sauerkraut sucht man vergebens, dafür wird ein anglisiertes »Schnitzelsandwich« angepriesen (»Das hat bestimmt dieser Churchill auf die Karte gesetzt!«), vom Balkan hat sich als kulinarischer Partisan das Schaschlik eingeschlichen (»Bolschewistische Küchenverschwörung!«) und die Currywurst bringt die Stimme in unseren Köpfen erst recht zum Toben. (»Was haben indische Gewürze an einer deutschen Wurst zu suchen?«) Die Art, wie Letztere auf der Karte ausgezeichnet ist, hat dann aber so viel von anal-fixiertem germanischem Regelungswahn an sich, dass es der Stimme vor lauter Freude die Sprache verschlägt:
    »Currywurst (1-6) – 1: Mit Farbstoff; 2: Mit Konservierungsmittel; 3: mit Antioxidationsmittel; 4: mit

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