Daisy Sisters
als sie hier stand und beschlossen hatte, sich nicht hinunterzustürzen.
Elna. 16/1/1942.
Eivor hockt sich neben sie und folgt Elnas Finger mit den Augen.
»Das hier habe ich mit einem Nagel eingeritzt«, sagt sie. »Vor zwanzig Jahren.«
Eivor hat das Datum gesehen.
»Zwei Monate bevor ich geboren wurde. Was hast du gedacht, damals?«, fragt Eivor.
»Ich dachte daran, zu springen.«
Damit war es gesagt, ohne Widerruf …
»War es so schrecklich?«, fragt Eivor nach einer Weile.
»Ja. Das war es wohl.«
»Aber du bist nicht gesprungen.«
»Es ist selten, dass die Leute es tun. Die meisten springen nie.«
»Aber was hast du gedacht?«, fragt Eivor wieder.
Elna dreht sich zu ihr um. »Erinnerst du dich, wie ich dich manchmal angeschrien habe?«, sagt sie.
»Wie sollte ich das jemals vergessen können.«
»Dann verstehst du auch, was ich dachte. Dass ich es nicht wollte …«
»Ja. Ich verstehe. Ich bin froh, dass du mir das hier gezeigt hast.«
»Ich hatte es nicht vor. Es ist mir unterwegs eingefallen.«
Eivor zieht einen Nagel aus einer morschen Planke und ritzt ihren eigenen Namen ein neben dem Elnas.
Eivor. 6/8/1962.
Sie gehen die Treppe hinunter und kehren zum Hauptweg zurück.
»Standen da Soldaten in diesem Turm während des Krieges?«, fragt Eivor.
»Ich weiß nicht«, antwortet Elna. »Nicht, als ich hier war. Aber das war ja an einem Sonntagmorgen. Man konnte sich wahrscheinlich nicht vorstellen, dass jemand so dreist wäre, an einem Sonntagmorgen anzugreifen …«
Sie beginnt zu lachen, und Eivor denkt, es ist das erste Mal, dass sie und Elna zusammen albern sind.
Sie kehren in die Stadt zurück, zum kranken Rune. Sie bleiben noch ein paar Tage, und die meiste Zeit sitzen sie in der Küche und warten darauf, dass er aufwacht.
Sie fahren an einem frühen Morgen aus Sandviken ab, als gerade ein Sturm über die Stadt zieht. Eivor steht drinnen an Runes Bett, hält seine Hand, um Lebewohl zu sagen, und hofft, dass sie ihn noch einmal sehen wird. Er kann doch nicht sterben! Obwohl sein Gesicht grau ist und die Hände so mager und kalt …
Eivor und Staffan kommen nach Borås zurück, und Ende September ziehen sie in ein dreigeschossiges Mietshaus in Sjöbo. Eivor empfindet ein vages Unbehagen, weil sie an den Ort zurückkehrt, an dem sie während ihrer ersten Zeit in der Stadt wohnte. Als sollte sie an etwas erinnert werden, was sie eigentlich vergessen will. Aber eine moderne Wohnung ist trotz allem wichtig.
Plötzlich ist nicht mehr viel Zeit bis zur Geburt des zweitenKindes. Während dieser letzten Phase der Schwangerschaft fängt sie an, sich auf das Kind zu freuen.
Herrgott, sie hat doch noch das ganze Leben vor sich! Rune hatte natürlich recht. Es ist für nichts zu spät. Niemals! Mit der Ungeduld muss sie eben fertig werden …
Sie verwendet viel Zeit darauf, Staffan zu erklären, dass er ein Geschwisterchen bekommt. Natürlich versteht er es nicht. Aber sie muss es versuchen, um nicht das Gefühl zu haben, ihn zu täuschen.
Und Jacob?
Er ist, wie er ist. Über seine Gefühle spricht er nie. Wenn er am Abend nach Hause kommt, isst er, spielt mit Staffan und schläft vor dem Fernseher ein. Einmal am Tag fragt er sie, wie es ihr geht. Manchmal kommt er mit Gebäck nach Hause. Wenn sie ihn bittet, etwas zu kaufen, was es in Sjöbo nicht gibt, schreibt er es sich auf, um es nicht zu vergessen.
Eines Nachts Anfang November, ungefähr einen Monat bevor das Kind zur Welt kommen soll, wacht Eivor davon auf, dass es in ihrem Bauch tritt und drückt. Sie liegt ganz still im Dunkeln, die Hand auf dem Bauch, als müsste sie das Kleine vor irgendeiner Gefahr schützen. Jacob schläft mit dem Rücken zu ihr. Er liegt zusammengerollt, und seine Atemzüge sind tief und schwer.
Als das Kind aufgehört hat, sich zu bewegen, ist sie hellwach, und sie weiß, dass sie nicht wieder einschlafen kann. Sie steigt schwerfällig aus dem Bett, lässt die Füße nach den Pantoffeln tappen und geht hinaus in die Küche. Sie öffnet die Kühlschranktür, kann sich aber nicht entscheiden, was sie haben will, also lässt sie die Tür wieder zufallen. Die Uhr an der Küchenwand zeigt Viertel vor drei.
Sie geht ins Wohnzimmer hinüber, zum Fenster, und drückt die Stirn gegen die kalte Scheibe.
Sie schaut hinüber zu dem Haus, in dem sie die erste Zeit wohnte, als sie nach Borås gekommen war, und zu ihrer Verwunderung sieht sie, dass das Fenster ihrer kleinen Einzimmerwohnung erleuchtet ist. Kann
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