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Daisy Sisters

Titel: Daisy Sisters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Arbeitsvermittlung steht, denkt sie, wie viele Menschen vor den Annoncen und vor den Telefonen drängen. Woran liegt das? Sollten die Schlagzeilen der Zeitungen etwas bedeuten? Krisenzeiten? Jetzt? 1972?
    Sie eilt zur Straßenbahn. Göteborg, eine Großstadt, eine Welt in sich. Aus den Fundamenten der ehemaligen Handelshäuser stürzt sich eine hochtechnisierte Industriegemeinde in die Zukunft. Und sie wird dazugehören!
    Als sie in die Straßenbahn steigt, spürt sie plötzlich ein Gefühl unendlicher Freiheit. Sie hat das halbe Leben noch vor sich, sie kann an die Zukunft denken. Und jetzt weiß sie ja so viel mehr als damals, als sie im Zug zu Jenny Anderssons Atelier in Örebro fuhr, gar nicht zu reden von ihrem Gestammel vor dem Personalchef bei Konstsilke in Borås …
    Für nichts ist es zu spät. Die Zeit als Hausfrau und als Mutter mit zwei Kleinkindern ist vorbei, bald kann sie für sich selbst leben, und genau darauf wird sie sich vorbereiten. Wenn sie nicht Krankenschwester werden kann, dann findet sich ja noch vieles andere. Was meinte Katarina Fransman? Laborgehilfin …
    Ein Sitzplatz wird frei, und sie klemmt sich zwischen zwei üppige ältere Frauen mit großen Einkaufstaschen.
    Eigentlich hätte ich noch viel mehr fragen sollen, denkt sie. Was ist erforderlich, um Fremdenführerin zu werden? Oder Reiseleiterin? Oder Rezeptionistin in einem Hotel? Ich muss mich für nächsten Montag besser vorbereiten.
    An diesem Abend, wenn die Kinder im Bett sind, wird sie all die Papiere lesen, nachdenken, Für und Wider abwägen,die Fragen aufschreiben, die sie Katarina Fransman stellen wird, wenn sie das nächste Mal hingeht. Sie steigt aus der Straßenbahn, kauft Lebensmittel beim Konsum, und zu Hause stürzen ihr die zwei prächtigen Schlüsselkinder entgegen.
    Wie sie sie liebt! Unvernünftig, gierig. Etwas in ihr zieht sich vor Freude zusammen, dass sie ihre Mutter ist, über diesen irrsinnigen Lebenshunger. Das Glück ist grenzenlos. Jetzt sind sie zehn und elf Jahre alt … Als ob man das Universum in der engen Dreizimmerwohnung hätte. Für sie wird sie leben, bis sie stirbt … Und nicht als Kaffeetante, sondern … Nein, jetzt muss erst mal Essen gemacht werden! Dann, wenn sie im Bett sind …
    Es ist neun Uhr. Der Fernseher läuft, aber sie hat den Ton ausgeschaltet. Auf dem Tisch hat sie alle Broschüren und Leitfäden ausgebreitet, und sie liest ein Schriftstück nach dem anderen.
    Einiges ist leicht zu verstehen, anderes verlangt nach Katarina Fransmans Erklärung. Klar ist jedenfalls, dass es nicht viele unüberwindliche Hindernisse gibt, wenn sie nur das Durchhaltevermögen hat. Lohn kann sie offensichtlich auch bekommen, und hat Enoksson nicht schon mehrmals eine Vollzeitstelle in zwei Halbzeitstellen geteilt? Oder vielleicht kann sie eine Arbeit hier draußen in Frölunda finden? Trotz allem geht sie ja schließlich jetzt zur Arbeitsvermittlung, und es wäre ein Traum, den langen Fahrten raus nach Torslanda zu entkommen.
    Sie zündet sich eine Zigarette an, steht auf und schaut hinaus in den Novemberabend. Da steht ein Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er steht genau am Rand des Lichtkegels der einen Straßenlaterne, die sachte in den Windböen schwankt.
    Er steht da und sieht hinauf zu dem Haus, in dem Eivor wohnt.
    Als sie ihn entdeckt, tritt sie einen Schritt zurück, um nicht gesehen zu werden. Sie raucht und betrachtet abwesend die dunkel gekleidete Gestalt. Einer, der ausgesperrt ist, verschmäht …
    Was kümmert sie das? Sie wendet sich zurück zum Tisch, wirft einen Blick auf das stumme Fernsehbild und nimmt ihre Papiere wieder auf.
    Als sie fertig ist und sich schlafen legen will, ist es nach halb zwölf. Sie gähnt und macht die Lampe über dem Sofa aus. Um den Tabakgeruch zu verscheuchen, kippt sie das Fenster.
    Da sieht sie, dass der dunkle Mann immer noch unten auf der Straße steht. An derselben Stelle, ein blasses Gesicht gegen die Schwärze.
    Sie runzelt die Brauen und fragt sich, warum er da auf der Straße steht, Stunde um Stunde. Nach wem schaut er? Dann ist sie sicher, dass er ihr Fenster beobachtet. Sie merkt, dass ihre Hand zittert, als sie die kleine Lampe auf der Fensterbank ausknipst. Danach dauert es nur ein paar Sekunden, bis der dunkel gekleidete Mann die Straße hinunter verschwindet.
    Sie geht in den Flur hinaus und prüft, ob die Tür verschlossen ist. Dann legt sie die Sicherheitskette vor und bleibt ganz still stehen. Sie hat Angst. Aber wovor?

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