Daisy Sisters
tief unter der Erde, die Leiche eines alten Mannes, der einst in seiner Küche saß und zusammen mit einem anderen Mann zu Mittag aß …
»Ich weiß überhaupt nicht, was ich sagen soll. Ich wusste nicht …«
»Dass ich raus bin?«
»Ja … Nein … Ich weiß nicht …«
Er zieht eine Halbliterflasche Whisky aus einer Außentasche der dunklen Jacke.
»Hast du zwei Gläser?«, fragt er.
»Ich will nichts.«
»Dann wenigstens ein Glas?«
Ja, natürlich hat sie ein Glas. Sie steht auf, geht hinaus in die Küche, und als sie zurückkommt, sieht sie, dass er den Verschluss abgedreht und schon einen Schluck genommen hat. Sie stellt das Glas vor ihn auf den Tisch und denkt, dass sie sich während der vergangenen sechzehn Jahre oft an ihn erinnert hat, aber immer als an jemand, den sie nie wiedersehen wird. Sie hat ihn gehasst für das, was er ihr damals angetan hat, und der Hass war so intensiv, weil der Mann ein für alle Mal fort war, nie mehr wiederkommen würde. Aber jetzt sitzt er hier, und sie ist völlig unvorbereitet, empfindet nur eine große Verwunderung …
»Es ist sechzehn Jahre her«, sagt er.
»Wie hast du mich aufgespürt? Hier?«
Er zündet sich eine Zigarette an, und sie sieht, dass er schmutzige Finger hat, genau wie damals …
Er ignoriert ihre Frage. Er will in seinem eigenen Takt erzählen. »Ich bekam zwölf Jahre«, sagt er. »Hätte ich die ganze Zeit abgesessen, wäre ich 1968 herausgekommen. Aber ich kam nach acht Jahren raus. Hätte ich mich gut geführt, wäre ich vielleicht mit sechs Jahren davongekommen. Aber ich bin ein paarmal geflohen … 1964 ließen sie mich frei. Am 10. April. Das letzte Jahr saß ich in Västervik. Davor bin ich durch eine verdammt große Zahl von Anstalten gewandert. Norrköping, Härnösand, Falun, wieder Härnösand. Sie verlegen Ausbrecher, aber sie vergessen, dass alle Gefängnisse gleich aussehen. Aber 1964 war es vorbei. Da konnte ichdankend hinausspazieren. Von Västervik fuhr ich hinunter nach Kalmar …«
Er schweigt plötzlich, versinkt in seinen Gedanken.
1964. Staffan war drei Jahre alt, Linda zwei. Wenn sie damals an ihn dachte, so sah sie ihn immer in einer grauen Gefängniszelle vor sich. Gitter, eine Pritsche, die Lederjacke im Nacken hochgezogen …
»Es ist ein seltsames Gefühl«, sagt er. »Gerade jetzt weiß ich nicht mehr, warum ich dich aufgesucht habe. Aber vorher wusste ich es …«
»Was meinst du?«
»Ja … Dass ich dich wiedersehen würde. Während all der Jahre bedeutete mir das eine Menge …«
»Ich glaube nicht, dass ich das verstehe.«
Plötzlich richtet er sich auf, heftig, als ob er gehen wollte. »Ich habe acht Jahre gesessen«, sagt er. »Da kannst du vielleicht eine Viertelstunde zuhören? Nur eine Viertelstunde. Ohne zu unterbrechen. Dann wirst du vielleicht verstehen …«
Aber aus der Viertelstunde wird eine Stunde, eine späte Stunde. Mit seiner nasalen, etwas heiseren Stimme baut er eine Brücke zwischen dem Augenblick vor sechzehn Jahren, als er mit dem Fluchtauto über eine Nagelmatte fuhr und dann fortgeschleppt wurde, über den Asphalt geschleift, bis zu dieser Novembernacht jetzt, in der Eivor ihm zuhört. (Während all dieser Jahre hat er sich oft gefragt, wie sie das damals erlebt hatte. Was sah sie, als er weggeschleppt wurde? Einen jämmerlichen, besiegten Körper zwischen drei oder vier Polizisten …)
»Ich bekam zwölf Jahre«, sagte er. »Aber zwölf oder fünfzig, das hätte keinen Unterschied gemacht. Ich hörte kaum, was der Richter sagte. Ich war vollkommen sicher, dass ich fliehen könnte, sobald ich in ein ordentliches Gefängniskäme. Solange ich in Untersuchungshaft saß, habe ich mich praktisch darauf gefreut. Ein richtiges Gefängnis, mit richtigen Gefangenen, mit denen man seine Kräfte und seinen Verstand messen konnte. Verstehst du? Ich begriff nichts. Für einen Teenie sind zwölf Jahre nur eine Ziffer, ohne Inhalt. Ich wurde nach Norrköping gebracht, warum gerade dahin, weiß ich nicht, vielleicht war es schlecht um Plätze bestellt, und das Einzige, woran ich dachte, war die Flucht. Tag für Tag. Die anderen, Bullen und Gefangene, versuchten natürlich, mir begreiflich zu machen, dass zwölf Jahre faktisch auch nur bis zum nächsten Frühstück dauern. Nach einem Jahr machte ich einen völlig undurchdachten Ausbruchsversuch, dabei schlug ich einem Bullen zwei Zähne aus, als der mich von dem Zaun herunterfischte, an dem ich hing.
Ich wurde wohl zehn Jahre älter in einer
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