Daisy Sisters
auch geschieht, Krieg oder nicht.
Vivis Zug geht als erster, und Elna läuft neben dem Wagen her und winkt, bis der Bahnsteig zu Ende ist.
Aber dann, als sie auf der Holzbank in ihrem eigenen Zug sitzt, bricht das, was sie in der letzten Woche unterdrückt hat, aus ihrem tiefsten Innern hervor. Sie sorgt sich so schrecklich, dass sie schwanger sein könnte. Wieder und wieder ist sie das, was vor der Scheune geschehen ist, durchgegangen, und bestimmt ist geschehen, was nicht geschehen darf. Sie schaut aus dem Fenster, über den See Runn, der durch die Kiefernstämme schimmert, und denkt, dass, Gott im Himmel, dieses nicht hätte passieren dürfen …
Wie hieß er? Nils? Und weiter? Und wo wohnt er, wenn er nicht einberufen ist? Was macht er? Gott im Himmel, sie weiß ja überhaupt nichts von ihm …
Fünf Wochen später, Mitte August, weiß sie, dass sie schwanger ist.
Sie wohnt jetzt in Ingenieur Asks Villa. Gleich nach der Heimkehr ist sie zur ersten Hausgehilfin aufgestiegen, nachdem ihre frühere Arbeitskollegin Stina die Gelegenheit ergriffen hat, während ihres Aufenthalts am Rande von Stockholm zu türmen. Sie hat das Angebot einer Witwe aus derKommandeursgatan angenommen und ist, undankbar und frech, einfach verschwunden.
Auf Elna kann man sich hingegen verlassen, sie ist ja so gefügig und genügsam.
Ein eigenes Zimmer vor der Küche hat sie jetzt, eng wie eine Kälberbox, aber immerhin. Und in dieser Kammer wacht sie nun jeden Morgen verzweifelt auf und hofft, dass da Blut im Bett sein könnte. Es ist schon einen Monat über der Zeit, und eines Morgens muss sie sich plötzlich übergeben, als sie das Teefrühstück des Ingenieurs zubereitet. Da erlischt der letzte Hoffnungsschimmer: Das Unglück ist passiert, sie trägt ein Kind im Leib.
Sie tut das Einzige, was ihr einfällt: Vivi schreiben, berichten, was wirklich geschehen ist draußen vor der Scheune, während sie und Nypan sich an die Wand gekuschelt haben. Die Gewalt, die Ohrfeigen, der stechende Schmerz im Unterleib, die pumpenden Stöße. Sie schreibt auch, dass sie sich gewehrt habe, dass er aber zu stark gewesen sei und zu betrunken. Und jetzt kommt keine Blutung, sie muss schwanger sein. Oder gibt es eine andere Möglichkeit …? Schreib, antworte nur, so schnell du irgend kannst. Ich hab nur dich, Vivi, niemanden sonst. Ich kann zu Hause nichts erzählen. Wenn du bloß nicht so weit weg wärst, ich ertränke mich, antworte mir, hilf mir.
Nein, sie übertreibt nicht. Wen um alles in der Welt kann sie um Rat fragen? Allein der Gedanke, Mutter oder Rune gegenüber etwas zu erwähnen, ist schlimmer als jeder Albtraum. Man würde sie sofort verurteilen. Mutter würde vermutlich nur in ihr Zimmer flüchten und die Tür hinter sich zuknallen, aber Vater, er würde wohl Amok laufen, sie im Wahnsinn schlagen und dann die Treppe hinunterwerfen mit den Worten, dass sie besser nie geboren wäre …
Sie weiß ja gar nichts. Man spricht doch nicht über sowas. Als sie zum ersten Mal ihre Menstruation bekam, glaubte sie, sterbenskrank zu sein. In Panik lief sie zu Ester, und dort bekam sie Hilfe, vor allem wurde ihr erklärt, was los war. Ester gab ihr eins von ihren eigenen Stopftüchern und lehrte sie, sich selbst welche zu machen. Halt dich von den Kerlen fern , das ist die einzige Schrift an der Wand. Aber ihr Bruder Arne? Wenn nur ein Zehntel seiner angeblichen Frauengeschichten auf Wahrheit beruht – wie viele Kinder hat er? Keins, das weiß sie bestimmt.
1937 kam ein Gesetz heraus, das den Verkauf von Präventivmitteln erlaubte. Sie verstand Primitivmittel , bis sie auf dem Schulhof das richtige Wort lernte. Sie hat einmal ein Gummi gesehen, das lag auf der Straße, schlaff, durchscheinend, eklig. Soll eine Frau so was in sich haben? Niemals!
Sie beißt die Zähne zusammen und erledigt ihre Aufgaben unter Frau Asks Habichtaugen. Der Krieg ist jetzt völlig unwichtig für sie; worüber Frau Ask und der bekümmerte Mann sich bei Tisch zanken, ist ihr egal. Manchmal, wenn sie über die letzten Frontnachrichten reden, hat sie große Lust zu schreien, dass sie schwanger ist. Hört ihr! Ich krieg ein Kind, und ich will es nicht haben!
Solange sie keine Antwort von Vivi hat, ist sie wie gelähmt, kann keinen klaren Gedanken fassen.
Ein großes Nein in einer Wolke von Verzweiflung, das ist alles, was zählt.
Als der Brief von Vivi kommt, reißt sie das Kuvert auf und stürzt in ihre Kammer, obwohl sie auf dem Hof stehen und Teppiche klopfen
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