Daisy Sisters
ist. Hat er Schlüssel oder Dietriche für alle Türen dieser Welt? Und wie ist er diesmal ausgebrochen?
Er steht vor der Tür, und sie sieht sofort, dass er gestohlene Kleidung trägt.
Die Wollmütze, die Reklame für irgendein Sportereignis macht, mag ja noch auf ehrliche Weise gekauft sein, aber den braunen Ulster hat er bestimmt nicht in einem Geschäft anprobiert, auch nicht die schwarzen Stiefel mit Reißverschluss an den Seiten.
Natürlich lässt sie ihn herein, die verbotene Schwelle hat nur eine symbolische Bedeutung. Sie können ja nicht gut in der Türöffnung stehen bleiben und miteinander reden und in regelmäßigen Abständen auf den roten Knopf drücken, um das Licht im Treppenhaus anzuschalten.
»Du brauchst keinen Gedanken daran zu verschwenden, den Mantel abzulegen«, sagt sie. »Du wirst schnell wieder gehen. Diesmal bleibst du nicht.«
Sie sieht, wie er erstarrt, und fragt sich, ob er so verzweifelt ist, dass er sie wieder schlagen wird.
»Sprich leise«, sagt sie. »Die Kinder schlafen.«
Sie schiebt die Kinder vor als sichernden Schutzschild.
Später wird sie sich viele Male voller Selbstvorwürfe fragen, wie es geschehen konnte, dass sie sich seine Reaktion auf ihre Schwangerschaft nie vorgestellt hat. Sie ist vollkommen unvorbereitet, und nur mit knapper Not gelingt es ihr, nicht von seiner heftigen Gefühlsbewegung angesteckt zu werden.
»Du hast gelogen«, sagt sie, als sie es ihm erzählt hat. »Du hast gesagt, dass du keine Kinder bekommen kannst. Aber das ist nicht wahr.«
»Ich glaubte, dass es so wäre«, sagt er, und die Lüge ist so durchsichtig, dass sie sich nicht herablässt, sie zu kommentieren.
Und dann, der große Augenblick: Lasse Nyman sagt die Wahrheit, spricht von seinem Glück! »Ein Kind ist das, was ich mir am meisten auf der Welt gewünscht habe«, sagt er. »Das kann alles verändern. Jetzt sitze ich zum letzten Mal.«
»Ich werde dieses Kind nicht bekommen«, antwortet Eivor. »Da musst du dir schon eine andere Frau suchen. Eine, die will.«
»Du darfst keine Abtreibung machen«, sagt er, und obwohl er beinahe flüstert, kann sie die Verzweiflung heraushören, die seine Stimme erfüllt.
»Doch«, sagt sie. »Am Montag. Und jetzt will ich, dass du gehst.«
»Wenn du das tust, nehme ich mir das Leben«, sagt er, und schaudernd erkennt sie, dass ein Flüstern mehr schmerzen kann als ein schriller Schrei.
»Geh jetzt«, sagt sie wieder.
»Ich nehme mir das Leben«, sagt er. »Ich mache das.«
»Das tust du nicht«, sagt sie. »Geh jetzt. Sonst rufe ich die Polizei.«
»Ruf die Polizei«, sagt er. »Oder ich melde mich freiwillig. Aber das Kind will ich haben.«
»Nein«, sagt sie, und da glaubt er ihr und stürzt davon.
Als Eivor viel später im Detail erfährt, was geschehen ist, dank eines einfühlsamen Poilizeibeamten, gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass er sich nicht vorsätzlich das Leben genommen hat. Er hat, nur wenige Straßen von Eivors Hausentfernt, ein Auto gestohlen und sich auf die Hauptstraße nach Stockholm begeben, er wurde an einer Tankstelle in Lerum beobachtet; all das ist ausführlich im Protokoll dokumentiert. In umständlicher Behördensprache kann sie den letzten Stunden seines Lebens folgen, manchmal sogar mit der genauen Uhrzeit, die ist im Text festgehalten. Aber die Frage, die sie beantwortet haben will, hat er mit sich in den Tod genommen, und sie wird niemals wissen, ob seine letzten Worte, seine Drohung ernst gemeint waren. Als sie am Tisch des freundlichen Beamten sitzt und den Rapport liest (er holt sogar einen Pappbecher mit Kaffee für sie und verlässt dann diskret den Raum), macht sie das in einer seltsam überhöhten Form von Konzentration. Er ist also ein paar Straßen weitergegangen – oder -gerannt – und hat sich dort einen Volkswagen geschnappt, Baujahr 69, der dem Inhaber eines unansehnlichen Möbelgeschäfts in der Västra Hamngata gehörte. Schon das ist ungewöhnlich, denkt sie. Ein Volkswagen. Vor sechzehn Jahren hätte er nur einen Volkswagen genommen, wenn kein amerikanisches Fahrzeug erreichbar gewesen wäre. Bedeutete ihm das nun nichts mehr? Hat er einfach das erstbeste Auto genommen, aufgebracht und verzweifelt, wie er war? Ich will dieses Kind haben . Sie denkt, dass sie nun lernen muss, mit diesem erstickten Schrei zu leben, und sie liest weiter. Der nächste Halt, an dem man ihn beobachtet hat, ist die abends geöffnete Tankstelle in Lerum. Dort schnappt er sich Benzin, ohne zu
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