Daisy Sisters
bezahlen. 19,2 Liter hat er in den Tank gefüllt, und Eivor fragt später den Polizisten, ob das nicht ziemlich viel sei. Ja, der Tank musste fast leer gewesen sein, als er in die beleuchtete Tankstelle einbog. An jenem Abend bedient an der Tankstelle ein Angestellter namens G. Lind, 23 Jahre, wohnhaft in Jordås. G., denkt sie, Gustav, Gottfrid oder Gunvor? Nein, weiter unten wird der tüchtige Angestellte mit dem männlichenPronomen bezeichnet, und sie wird an ihn immer als Gustav Lind denken. Dieser Mann hatte Geistesgegenwart genug, hinauszurennen und die Autonummer zu erkennen. Nach einem Anruf bei der Polizei ist die Jagd eröffnet. Das beruht natürlich nicht auf den neunzehn Litern Benzin, sondern darauf, dass die Personenbeschreibung auf Lasse Nyman hinweist. Direkt nördlich von Alingsås tritt eine Funkstreife in Kontakt mit dem Volkswagen, aber da bekommt der Polizeiwagen fatalerweise einen Platten, eine Funkmitteilung wird missverstanden, und erst zwanzig Minuten später ist eine andere Funkstreife hinter ihm her. Ich nehme mir das Leben. Wenn er wirklich vorhatte, das zu tun, dann hätte er doch nicht so lange herumzufahren brauchen, denkt sie. Aber vielleicht musste er Mut fassen, vielleicht wollte er alles noch einmal durchdenken …
Nein, das kann sie nicht glauben, aber sie fragt sich, was geschehen wäre, wenn der unglückselige Polizeiwagen keinen Platten bekommen hätte und wenn die Person, die den Kontakt zwischen den Funkstreifen herstellte, sofort richtig verstanden hätte. Die Verfolgungsjagd endet nördlich von Vårgårda, genauer gesagt drei Kilometer vor der Kirche S. Härene, wo der Volkswagen plötzlich ausbricht und frontal gegen einen Baum kracht. Irgendwelche Bremsspuren kann die Polizeipatrouille, die zu der Stelle kommt, nicht entdecken. Es gibt keine Zeugen für die letzten Sekunden in Lasse Nymans Leben, und so bleibt die Ursache für das Unglück ungeklärt. Vielleicht ist der Fahrer eingeschlafen, aber an diese Möglichkeit glaubt Eivor nicht. Nein, das kann sie sich einfach nicht vorstellen.
Sie legt den Rapport fort, sie ist allein in dem engen Büro des Polizisten. Im Korridor hört sie einen Mann in gebrochenem Schwedisch gegen etwas protestieren, ein Telefon läutet trostlos, ohne dass sich jemand darum kümmert. Sie denkt,dass es in dem, was geschehen ist, trotz allem eine Logik gibt. Für Lasse Nyman war das Auto sein Ein und Alles. Wenn er schon sterben müsste, dann sollte es in einem Auto sein. Und als sie aufgestanden und zu einer Wandkarte gegangen ist, auf der sie Vårgårda findet, dazu das schwarze Kreuz, das die Kirche S. Härene markiert, wird ihr klar, dass sie bekanntes Gebiet betrachtet. Durch diese Landschaft ist sie selbst einmal zusammen mit Lasse Nyman gejagt, hier wurden alle Träume ihres jungen Lebens durchkreuzt, während weniger intensiver und schrecklicher Tage. Lasse Nyman hat sich wenige Kilometer von dem Platz zu Tode gefahren, wo er in der Vergangenheit seinen Revolver gehoben und einen alten Mann erschossen hatte. Der gejagte Hase ist im Kreis gelaufen.
Als sie das Polizeigebäude verlässt, hat es angefangen zu schneien, und die Temperatur ist spürbar gestiegen. Sie denkt, eigentlich sollte sie herausfinden, wo und wann Lasse Nyman beerdigt wird, aber sie weiß, dass sie es nicht tun wird. Ein Kranz oder ihre Anwesenheit in irgendeiner unbekannten Kirche oder einem Krematorium verändern nichts, und es ist eine ganz andere Bürde, die sie jetzt tragen muss.
Da ist nur eine schwere, unwirkliche Stille in ihr. Im Nachhinein hat sie eingesehen, dass fast alles, was sie gemacht hat, falsch war (sie selbst verurteilt sich unbarmherzig als einfältig und starrköpfig) und dass der fatale Fehler darin bestand, keine Hilfe gesucht zu haben, als sie sie am dringendsten gebraucht hätte. Mitten in der absoluten Stille, die auf den großen Schlag folgt, wächst eine seltsame Entschlossenheit in ihr. Am Montagmorgen ruft sie im Krankenhaus an und sagt den Termin ab. Sie gibt keine andere Erklärung als die: Sie kommt nicht. Und ohne dass sie sich eigentlich klar darüber ist, bereitet sie sich auf ein drittes Kind vor. Sie geht weiterhin zu ihren Abendkursen, mit einem kleinen nervösenLachen, aber die Modellflugzeuge und Farbkreiden dürfen auf dem alten Mangeltisch liegen, und eines Nachmittags, als sie von ihrer Arbeit kommt und Linda dort sitzt und zeichnet, sagt sie nur, dass sie auf die Augen achten und die Lampe anmachen soll. Auf beinahe
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