Daisy Sisters
überblicken kann. Wie ein Pferd, das mit aufgesetzten Scheuklappen voran durchs Leben hetzt … Im Altenheim hatte sie wenigstens das Gefühl, den Sinn der Plackerei zu sehen. Wenn ein Lächeln in einem alten, von Falten durchzogenen Gesicht aufleuchtete …
Eivor hat Glück. Die Nachbarin zur Linken, Frau Solstad, hat von sich aus angeboten, sich Elins anzunehmen, für eine unbedeutende Summe, während Eivor auf der Arbeit ist. Eivor hatte sich schon vor langer Zeit für einen Platz in einer Tagesstätte eingetragen, aber die Liste ist lang, und sie macht sich keine direkten Hoffnungen. Gerade will sie auf Frau Solstads Klingel drücken, als sie sich entschließt, sich fünf Minuten Alleinsein zu gönnen.
Sie geht in ihre Wohnung und öffnet die Tür zum Badezimmer, um sich die Hände zu waschen.
Da drinnen sitzt Staffan, und er hat vergessen, hinter sich abzuschließen. Eivor zuckt zurück, und später wird sie denken, dass das eine Situation war, in der sie alles auf einmal sah , einschließlich aller im Bild enthaltenen unsichtbaren Details. Staffan, der auf dem Wannenrand sitzt und wichst, mit heruntergelassenen Jeans, den Blick auf eine Pornozeitschrift geheftet. Aber zu ihrer Verwunderung sieht sie, dass er ihre besten Schuhe anhat, die einzigen mit hohen Absätzen. Er starrt sie an, gelähmt, und sie denkt, dass sie das ja nun auf keinen Fall will, ihm zuliebe. Sie fühlt, wie sie rot wird, und beeilt sich, die Tür zuzuschlagen.
»Oje«, ist alles, was sie herausbekommt, und dann geht sie schnell in ihr Schlafzimmer. In ihrem Schockzustand kann sie nur einen einzigen klaren Gedanken fassen: wie völlig unglaublich und furchtbar das für ihn gewesen sein muss!Buchstäblich mit heruntergelassener Hose ertappt zu werden! Sie versucht verzweifelt ein Wort aus ihrem Gedächtnis hervorzukramen, mit dem sie ihm sagen kann, das macht nichts . Am liebsten würde sie zurück ins Badezimmer laufen und ihm sagen, dass sie nichts gesehen hat. Sie setzt sich auf die Bettkante. Es dauert fast zehn Minuten, ehe sie ihn das Badezimmer verlassen hört. Es tut ihr weh, sich vorzustellen, wie er sich fühlt, aber sie vermag nicht, zu ihm hinauszugehen, und als er wenige Minuten später die Wohnung verlässt, denkt sie, gut so. So tun, als wenn nichts wäre, obwohl beide Bescheid wissen. Wenn er sich jetzt nur nicht so gedemütigt fühlt, dass er etwas anstellt … Sie läuft in die Küche und schaut aus dem Fenster, aber er ist schon in dem dunklen Oktoberabend verschwunden.
Der Abend wird ein einziges lang gezogenes Warten. Als Eivor sich schließlich zwingt, Elin von Frau Solstad zu holen, kann sie ihrer aufgedrehten Tochter absolut nicht mit der Freude begegnen, die sie verdient. Elin hängt sich an ihre Kleider, als sie das Essen vorbereitet, und plappert unaufhörlich, so viele Erlebnisse hat sie während des Tages gehabt, vor allem ist einer der Wellensittiche aus seinem Käfig entkommen und hat für mehrere Stunden hoch oben auf einem Schrank gesessen. Eivor murmelt nur etwas mit halb geschlossenen Lippen, flucht in sich hinein, während die Kartoffeln zerkochen, stellt die Teller unsanft auf den Tisch. Als sie Elin zu Bett bringt, ist sie viel zu kurz angebunden und schroff zu ihr, und die großen Augen sehen sie verwundert an, als sie sich kategorisch weigert, mehr als eine Geschichte zu lesen. Dann setzt sie sich, ohne Licht zu machen, ins Wohnzimmer und schaltet den Fernseher an. Den Ton stellt sie ab und starrt wütend auf die stummen Bilder.
Natürlich wusste sie, dass er onaniert. Aber das hat sie ohne größere Schwierigkeiten als natürlich akzeptieren können.Die Angst, mit der sie da sitzt, die Unruhe, die sie rastlos macht, ist das Gefühl, dass sie ihn auf irgendeine Art im Stich gelassen hat. Ist ihr jemals der Gedanke gekommen, dass es nicht nur die Töchter sind, auf die man achten, die man an der Hand nehmen und in die komplizierte Welt führen muss? Wer hat behauptet, dass Staffan es weniger schwer haben würde? Das hat niemand. Da sie sich nicht vorstellen kann, dass Jacob jemals mit seinem Sohn gesprochen hat, ist sie es, die die Verantwortung trägt. Hierfür wie für alles andere. Nie wird sie lernen, dass sie allein mit den Kindern zurechtkommen muss. Jacob ist eine Schattenfigur draußen in der Kälte, der mit Geld und mit allgemeinen Freundlichkeiten ein paarmal im Monat helfen kann. Aber die Verantwortung für die Menschen hat sie, und immer wird sie eingeholt von ihrer eigenen
Weitere Kostenlose Bücher