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Daisy Sisters

Titel: Daisy Sisters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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daran gewesen war, aufzugeben, sich geschlagen zu geben. Was sie eigentlich weitergetrieben hatte, als es am schlimmsten war, konnte sie nie herausfinden. Möglicherweise war es so, dass sie es ganz einfach nicht schaffte, den Rückzug anzutreten. Lieber eine vollständige Niederlage, als mit so viel verbliebener Kraft aufzugeben.
    Was geschah, war eigentlich sehr einfach, und es begann – wie sie es befürchtet hatte – schon am ersten Montag, als sie zur Arbeit kam, ohne dass sich Ann-Sofi, »die schwangere Leibwache«, an ihrer Seite befunden hätte. Sie hatte schlecht geschlafen und war früh draußen. Das Stahlwerk war eine Industrie, wo es zuging wie überall sonst: Man sollte am besten pünktlich, aber nicht zu früh kommen, besonders an einem Montagmorgen. Obwohl die Schicht erst in einer halben Stunde beginnt, ist sie nicht die Erste. Albin Henriksson befindet sich schon seit zwanzig Minuten am Platz, umgezogen und bereit. Er ist ein Mann, der während der Arbeitswoche dauernd vom Freitag redet, aber schon am Samstagabend beginnt, unruhig zu werden, das Stahlwerk könnte am Montagmorgen vielleicht nicht mehr dastehen. Aber es steht noch da, und schon ehe er durch das Tor geht, mit einem wütenden Blick zu der Person im Pförtnerhaus, hat er angefangen, die fünf langen Tage, die er vor sich hat, zu hassen. Es gibt niemanden, der so oft davon spricht, blauzumachen, sich krankschreiben zu lassen, aber auch keinen, der so wenige Krankentage hat. Jetzt, da Eivor kommt, trödelt er im Flur vor dem Umkleideraum herum wie ein Angeklagter, der darauf wartet, hereingerufen zu werden, um sein Urteil zu vernehmen. Er starrt sie an wie ein Gespenst. Eivor nickt und lächelt, sagt »Guten Morgen«, aber Albin Henriksson sieht durch sie hindurch. Er packt sie, ein Griff mit den dünnen Fingern um ihren Arm, und sagt, dass die Rezession, diese Pest jetzt auch nach Borlänge gekommen sei, die Ansteckung hat sich einen Weg über den Dalälven gesucht, das hat er im Radio in den Morgennachrichten gehört. Die Zeit, als es so aussah, als ob es reichte, Domnarvets Namen zu flüstern wie eine Beschwörung, ein Gütesiegel für die anerkannte Qualität der Werksprodukte, scheint unwiderruflich vorbei zu sein. Eivor, die völlig neu ist und genug mit der Unruhe in sichselbst zu tun hat, um die Arbeit zu schaffen, die von ihr erwartet wird, kann natürlich nicht sofort die neue große Drohung verstehen, von der Albin Henriksson spricht. Und den Gedanken, entlassen zu werden, eine Woche nachdem sie angefangen hat, lässt sie gar nicht erst an sich heran. In anderen Ländern, an anderen Arbeitsplätzen, aber doch nicht hier! Albin Henriksson begreift, dass sie vollkommen verständnislos ist, und stürzt sich nun auf Holmsund, der den Flur entlanggewatschelt kommt, verkatert und schwindlig, zerzaust und ungewaschen. Er hat von nichts gehört (wer, zum Teufel, hat Zeit, Radio zu hören?) und will auch nichts hören. Er knurrt Albin an und stolpert über die Schwelle zum Umkleideraum.
    Eivor verschwindet in ihrem Raum, und Albin Henriksson wütet wie ein Agitator darüber, dass keiner versteht, was los ist. Erst als der ruhige Göran Svedberg nach seiner morgendlichen Reise aus Dala-Järna auftaucht, hat er jemanden, mit dem er reden kann. Eigentlich sagt Göran Svedberg kein einziges unnötiges Wort, aber an diesem Morgen hat er selbst die Nachrichten gehört, während er mit seiner Frau und dem Neugeborenen in der Küche saß. Während der Autofahrt hat er darüber nachgedacht, dass er, obwohl er seit fünf Jahren hier arbeitet, trotzdem zu denen gehört, die als Erste die schicksalsschweren Worte zu hören bekommen würden: Die zuletzt Angestellten verlassen das Boot zuerst! Aber es sind nur Gerüchte, und in dieser Branche sollte es wohl genug Menschen geben, um sich zu wehren. Das sagt er auch zu Albin Henriksson, und er weiß nicht, ob er es selbst ist oder sein Arbeitskollege, den er zu beruhigen versucht.
    Als Eivor dann in ihrem Kran sitzt, schweißnass und mit klopfendem Herzen, achtet sie natürlich nicht mehr auf das schreiend geführte Gespräch der Kerle da unten am Boden. Sie hat genug damit zu tun, ihre Hebel zu finden, in der ruhigenSekunde den richtigen zu wählen – und das alles so vorsichtig und vor allem so sanft wie möglich. Immer wieder wundert sie sich darüber, dass die wenigen Bewegungen, die sie mit ihren Hebeln macht, so viel bewirken. Die kolossalen Stahlbleche, frisch ausgerollt und dampfend, die sich

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