Daisy Sisters
Kiefern entlangwindet, steht ein Wachtturm, ein graues Holzskelett, mit einer gebrochenen Treppe, die oben an einer Plattform endet. Sie schaut hinauf und sieht, dass keine Wache auf dem Turm steht. Am Fußende der Treppe hängt ein Schild: Zutritt für Unbefugte verboten. Ohne dass sie sich richtig klar darüber ist, beginnt sie, die Turmtreppe hinaufzusteigen. Sie geht langsam. Sie zählt die Stufen … 43, 44, 45, und bei 62 ist sie oben. Die Plattform besteht nur aus einem Bretterboden und einem Geländer, das ihr bis zum Bauch reicht. Hier oben befindet sie sich über den Baumwipfeln, und ein schwacher Wind zieht über dem Wald auf.
Sie schaut über die Winterlandschaft hinaus, folgt mit dem Blick den dunkel bewaldeten Hügeln, den weißen Feldern, die wie ausgebreitete Laken daliegen. Sie lehnt sich weit über das Geländer. Hier und da eine einsame Scheune. Weit entfernt meint sie auch einen Skifahrer zu sehen, der eins von den weißen Feldern passiert. Sie blinzelt mit den Augen, und es dauert lange, bevor sie sicher ist, dass da etwas ist, was sich bewegt. Aber da ist wirklich ein Skifahrer, langsam verflüchtigt er sich und verschwindet kurz darauf im Wald, als ob er nie existiert hätte. Sie mag, was sie sieht. Nur eine Winterlandschaft, kalt und eintönig, aber es ist ihre. Daran ist sie gewöhnt. Ihr Reich, ein einsames Schneereich,aber trotzdem das schönste, das sie kennt. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, und obwohl der Bauch im Weg ist, kann sie unten ihre eigene Fußspur sehen.
Wenn ich springe, wäre es in wenigen Sekunden vorbei, denkt sie. Ich hätte gar keine Zeit nachzudenken, ich würde mitten in einem Atemzug sterben, und ich würde nicht mal einen Schmerz spüren. So einfach wäre das, ein Fall in meine eigene Fußspur, und alles wäre vorbei.
In einer Ecke der Plattform ist ein Brett zum Sitzen angebracht, sie klettert hinauf, es ist nur ein Einfall, der durch ihren Kopf wirbelt. Sie ist so müde, die langen durchgrübelten Nächte haben ihr die Kraft geraubt, nicht einmal die Geborgenheit in Esters Gesellschaft hilft noch. Und jetzt steht sie auf einem Turm und fühlt den Sog der Tiefe. Sie wehrt sich dagegen …
Lange steht sie so, mit dem Oberkörper über dem Geländer hängend, bevor sie von der Bank hinunterklettert und zusammensinkt. Sie friert so sehr, dass sie zittert. Aber jetzt weiß sie es. Sie wird nicht springen. Nicht weil sie sich nicht traut, sondern weil sie es nicht will.
Zu sterben scheint ihr ganz einfach kein Ausweg. Sie beschließt, den Kampf aufzunehmen. Neben ihr auf der Bank liegt ein rostiger Nagel. Mit dem ritzt sie ihren Vornamen in das Turmgeländer, den Vornamen und das Datum.
Elna. 16/1/1942.
Dann steht sie noch eine Weile am Geländer, und wie eine Königin schaut sie über ihr Land. Schließlich steigt sie die Treppen hinunter, vorsichtig, um nicht auszurutschen, und biegt wieder in den Weg ein, den sie gekommen ist. Sie geht neben ihren eigenen Fußspuren, die in die andere Richtung führen.
Da ist die Ortschaft wieder. Bald beginnt der Gottesdienst, und einige Menschen streben schwerfällig zur Kirche.
Am selben Abend schreibt sie einen Brief an Vivi. Inzwischen fragt niemand mehr, was sie da tut, es ist zur Gewohnheit geworden, dass sie sich in der Küche einen Platz bereitet am Klapptisch und Papier und Bleistift hervorholt. Jeder versucht, ruhig zu sein und möglichst viel Rücksicht zu zeigen.
»… Ich habe mich entschlossen zu leben«, schreibt sie. » Wir werden ja sehen, was dann passiert. Danach.«
Und dann das Alltägliche. Dass es kalt ist, aber sie ist gesund. Und wie geht es Vivi da unten im abgelegenen Skåne? Ist es immer noch so mühselig und schwierig im Hotel? Und gibt es Schnee in Landskrona? Wenn nicht, so kann Vivi nach Sandviken kommen und sich welchen holen. Hier gibt es so viel, wie man sich nur wünschen kann. Das wird sicher ein langer Winter. Vielleicht bleibt der Schnee bis lange in den Mai hinein liegen … Und ihr Vater? Ist er immer noch in diesem Lager da oben in Norrland? Er hat ja nichts getan, so wird er sicher bald freigelassen. Jetzt herrscht ja auch Krieg zwischen den Deutschen und den Sowjets … Glaubt Vivi, dass der Krieg irgendwann einmal aufhört? Oder wird er andauern, bis keine Soldaten mehr übrig sind? Oder kein einziger lebender Mensch …?
Viele Grüße von Elna.
Sie hat recht. Es wird ein langer Winter.
So lang, dass es auch nicht das kleinste Frühlingsanzeichen gibt, als sie früh am
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