Daisy Sisters
habe. Und falls da trotz allem eine Alte drin ist, so fragst du nur nach dem Weg nach Mariestad und gehst dann wieder raus. Hast du verstanden?«
Sie nickt. Ja, sie hat verstanden. Aber er kann doch nicht etwa sehen, was sie denkt? Dass sie da drin in dem dunklen Holzhaus um Hilfe bitten wird. Dass sie sich entschlossen hat zu fliehen.
Dämmriger Nachmittag. Lasse Nyman lenkt den Ford auf den Hof und wendet. Die gestohlenen Autos parkt er nie so, dass er erst zurücksetzen und wenden muss, um wegzukommen, wenn es eilig werden sollte. Er hat viel gelernt. Auch wenn es ihm immer noch nicht gelungen ist, die höchste Kunst des Ausbrechers zu erlernen, nämlich beim Schlafen nur ein Auge zu schließen, so weiß er doch so viel, dass man nie mit dem Rücken zur Tür sitzen darf, nie das Gesicht oder die Autoschnauze in der falschen Richtung haben darf.
Er nickt. Jetzt kann sie aussteigen.
Was soll sie sagen? Was soll sie tun, wenn sie im Haus steht? Die Finger auf die Lippen legen und dem Alten bedeuten, dass er ruhig sein soll?
Ist es nicht das, was sie immer in den Filmen machen? Ein Finger mit einem schön lackierten Nagel auf einem schön gemalten Mund?
Sie hat keinen Nagellack, und den Lippenstift hat Lasse Nymans hungriger Mund weggekratzt. Aber einen Finger hat sie …
Sie klopft an die Tür und hört jemanden da drinnen undeutlich etwas murmeln. Hinter sich hat sie den schnurrenden Automotor, Lasse Nymans nervösen Fuß auf dem Gaspedal.
In der Küche sitzen zwei alte Männer an einem Esstisch. Das Wachstuch ist braun, und es riecht nach Marmelade und roten Rüben. Die Männer sind alt, weißhaarig, runzlig. Sie erkennt den Geruch.
Woher?
Ja, sie weiß. Es riecht wie in Anders’ Küche.
Und hier soll sie also Pullover und Bluse ausziehen, den BH aufknöpfen und die Hose herunterziehen.
Er muss verrückt sein.
»Helft mir«, sagt sie. »Helft mir …«
Es gibt nicht viel, was Eivor über die Welt weiß. Wie sollen zwei schwerhörige siebzigjährige Brüder verstehen, was sie meint? Und was sollen sie tun?
»Hä?«, sagt einer der beiden und steht auf. Er hat ein Loch in einer Socke, ein steifer großer Zeh schaut heraus.
Sie sieht sich in der Küche um. Gibt es kein Telefon? Aber wo sollte sie überhaupt anrufen?
Der, der aufgestanden ist, steht jetzt dicht vor ihr und blinzelt mit den Lidern. Sie wünschte, es wäre Anders. Aber er ist es nicht. Die einzigen Gemeinsamkeiten sind der bittere Altmännergeruch und die blinzelnden Lider.
»Ist was passiert?«, fragt der, der vor ihr steht. Der andere sitzt am Tisch mit erhobener Gabel.
Herrgott, wie soll sie diesen beiden Alten hier klarmachen, was geschehen wird? Wenn es doch bloß eine Frau hier gäbe, wenn Elna doch plötzlich aus der Wand träte.
Er wird ja bald kommen, viel zu schnell, und dann soll sie ausgezogen sein.
Eine Hintertür, was auch immer, bloß nicht mehr da sein, wenn er in die Küche kommt.
»Eine Hintertür«, sagt sie und beginnt zu weinen.
Hören die nicht, was sie sagt! Hintertür, HINTERTÜR …
Jetzt steht auch der andere auf, der am Tisch gesessen hat, und im selben Augenblick stürzt Lasse Nyman in die Küche.
In der Hand hält er einen schwarzen Revolver. »Was zum Teufel treibst du?«, brüllt er.
Die zwei Männer stehen vollkommen still, zwei Statuen, die nichts verstehen. Lasse Nyman dreht sich herum zu dem, der an der Ecke des Esstischs steht und an dem braunen Wachstuch knibbelt, und stößt ihm den Revolver gegen die Brust. »Rück’s Geld raus«, ruft er. »Schnell, schnell …«
Der Mann fällt durch den Stoß mit dem Revolver rückwärts. Im Fallen greift er nach dem Wachstuch, und die Teller und Tassen fallen auf den Boden. Mit einem Knurren wendet sich da der andere Mann, vielleicht der Bruder, an Lasse Nyman und hebt die Hände, als Schutz und als Waffe.
Lasse Nyman ahnt die Bewegung in seinem Rücken, und er schießt im gleichen Moment, in dem er sich umdreht, einmal, zweimal. Das Knallen ist entsetzlich, der alte Mann wird zurückgeschleudert und fällt auf den Boden, wobei das Blut aus seiner Wange und seinem Hals spritzt.
Mit einer kraftlosen Hand versucht er, die Wunde am Hals zu bedecken, aber vergebens, das Blut stürzt aus dem alten Körper heraus, die Hand fällt auf den braunen Korkteppich, ein paar keuchende Atemstöße, und dann die große Stille. Aber da beginnt der andere, der, den Lasse Nyman zu Boden gestoßen hat, sich mit dem Oberkörper hin und her zu wiegen und jammernde
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