Daisy Sisters
Altmännerschreie auszustoßen. Mit den Händen vor dem Gesicht klagt er über seinen totenBruder. Nicht ein einziges Mal sieht er auf Lasse Nyman oder Eivor, nur der Tote auf dem Boden existiert für ihn. Kein einziger verschreckter oder verwunderter Blick kommt von ihm, da sind nur klagende Kehllaute wie von einem verwunschenen Waldvogel.
Eivor sieht den Mord, hört den Knall, den darauf folgenden Klagegesang. Noch lange danach trägt sie auch das Gefühl in sich, gehört zu haben, wie das Blut und das Leben aus dem Hals des alten Mannes rannen. Aber das ist viel später. In einer Art ohnmächtigem Schrecken tut sie das Einzige, was sie kann, sie rast aus der Küche, reißt die Außentür auf und fängt an zu laufen, weg von dem Haus. In ihrem Kopf fällt der alte Mann, eine sich ständig wiederholende Bewegung. Nie denkt sie, dass das nur ein böser Traum sein könnte, etwas, woraus sie früher oder später erwacht. Das, was geschehen ist, ist wirklich, genauso wirklich, wie dass sie den feuchten, lehmigen Weg entlangrennt. Es ist wirklich, aber unfassbar, das, wovor sie davonläuft, wird sie niemals begreifen.
Sie kommt nicht weit, bis er sie mit dem Auto einholt, und als er in dem bröckelnden Lehm bremst, schleudert der Wagen, sie wird von einem Kotflügel gestreift und fällt zu Boden.
»Rein«, schreit er, und sie steht auf, springt auf den Vordersitz, denn sie wagt nichts anderes. Zwischen ihnen liegt der Revolver. Das also war es, was er unter der Lederjacke trug.
Er fährt wie ein Verrückter. Er weiß, was er getan hat, aber nicht, warum. Doch, eigentlich weiß er das schon. Sich den Rücken freihalten. Wie konnte er wissen, dass da zwei Männer in der Küche waren? Und der, der vom Tisch aufstand, hatte doch die Hände zum Angriff erhoben. Alles, was von hinten kommt, muss so schnell und hart wie möglich getroffen werden, das ist eine elementare Überlebensregel. Er oder ich, immer er oder ich.
Sie kommen auf die Hauptstraße, er zwingt sich, mit der Geschwindigkeit herunterzugehen, fährt ruhig, obwohl sein ganzes Inneres nur nach Geschwindigkeit schreit, so schnell und so weit weg wie nur möglich zu fliehen, um sich unsichtbar zu machen.
»So was passiert«, schreit er Eivor verzweifelt an. »Du kapierst wohl, verdammt noch mal, dass so was passiert. Er hat selbst schuld. Er hätte nicht versuchen sollen, sich an mich ranzuschleichen. Kapierst du?«
Eivor antwortet nicht, die Angst macht sie stumm. Sie versucht, sich auf die Landstraße zu konzentrieren, auf die entgegenkommenden Autos, den Wald, die Häuser. An etwas ganz anderes zu denken, sich vorzustellen, dass sie in ihrem Schlafalkoven liegt mit ausgeschalteter Bettlampe und dass sie sich gerade in einen behaglichen Tagtraum über die Zukunft gekuschelt hat, der sie in ihren Schlaf hineinbegleiten wird. Aber das geht nicht, sie kann es nicht lassen, ihn anzusehen, wie er da mit seinem weißen Gesicht sitzt. Sie sieht auf seine Hände, die sich um das Lenkrad krallen, die schmutzigen, zerkratzten Knöchel … Ja, er ist wirklich, wirklich …
Plötzlich bremst er scharf und schwenkt an den Straßenrand ein. Mit zitternden Händen kramt er eine Zigarette hervor und zündet sie an. »Verdammt«, sagt er. »Wir müssen zurück.«
Zurück? Dahin? Nein, niemals. Da kann er sie genauso gut hier im Straßengraben erschießen. Niemals wird sie umkehren.
Sie ist den Tränen ganz nahe, aber sie beißt sich auf die Lippen, sie wagt es nicht, wahrscheinlich schlägt er sie dann wieder. Bloß still sein, das ist ihre einzige Chance.
»Der andere«, sagt er. »Er hat uns gesehen.«
Natürlich versteht sie, was er meint. Der Mann, der aufdem Boden gesessen und gejammert hat, ist ein Zeuge. Und von Zeugen weiß sie, dass sie zum Schweigen gebracht werden müssen, das hat sie schon oft in den Kriminalgeschichten der Wochenzeitschriften gelesen, in den Samstagsfeuilletons im Radio gehört, ein paarmal auch im Kino gesehen. Für Lasse Nyman hat der Gedanke andere Wurzeln, eine verzweifelte Selbstverteidigung. Und außerdem trägt er eine aufsteigende Wut und einen zunehmenden Hass in sich darüber, dass der Mann auf dem Boden saß und jammerte. Wenn jemand einen Grund zum Schreien in dieser Welt hat, so ist er das, Lasse Nyman. Aber er darf nicht schreien, dann geht er unter. Und das wird er nicht, niemals. Die armen Teufel, die zufällig seinen Weg kreuzen, sind selbst daran schuld, so einfach ist das.
Er wendet das Auto.
»Nein«, schreit
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