Dalamay (Mein Leben ging einen anderen Weg)
unkontrolliert. Sofort nahm maman mich liebevoll in ihre Arme und drückte mich zärtlich. Noch einmal dachte ich, dass maman nicht schockiert ausgesehen hatte, als ich ihr die Geschichte erzählte. Wusste ich noch weniger vom Leben, als ich bisher gedacht hatte? War das, was meine Mutter getan hatte, für andere Menschen normal? Mein Gehirn arbeitete fieberhaft, aber mein Herz sagte mir, dass das Verhalten meiner Mutter und auch das vieler ihrer Freundinnen und all der Männer nicht normal war.
„ Chèrie“, sagte maman unsagbar zärtlich und wiegte mich sanft in ihren Armen, „vom ersten Augenblick an, in dem ich Dich erblickte, habe ich gewusst, dass in Deinem Leben viele Dinge komplett falsch gelaufen sind. Frage mich nicht, was genau es war, denn ich kann es Dir nicht erklären. Waren es Deine unschuldigen Augen, die das erste Mal in die Welt da draußen blickten? War es Deine Art, die so viel Sehnsucht ausstrahlte, als Du mit meinen Enkelinnen gesprochen hast? Deine Hilflosigkeit, die Du ausgestrahlt hast, als wir uns das erste Mal gegenüber standen? Vielleicht war es alles miteinander. Ich weiß es nicht, ma chère. Aber, was ich weiß, ist, dass ich noch nie in meinem Leben soviel Unschuld in einem Menschen gesehen habe. So viel Ehrlichkeit. Noch nicht einmal bei einem Neugeborenen.“
Ich verhielt mich ganz still in der Geborgenheit von maman Sofie und lauschte ihren Worten. Verhielt es sich wirklich so? War ich für Menschen wie Salomon und maman Sofie so einfach zu lesen wie ein offenes Buch?
Ja, so war es wohl. Und irgendwie war es gut so. Denn Menschen wie Salomon und maman Sofie waren nicht irgendwelche Menschen. Es waren Menschen von unsagbarem Wert, Menschen mit einem so großen Herzen für Menschen wie mich. Menschen, die mich nur kurz erlebten und mit nur einem Blick wussten, wie es um mich stand. Und dann immer noch da waren. So lange sie eben konnten. So lange sich unsere Wege kreuzten, wenn auch nur kurz.
Maman Sofie wiegte mich gedankenverloren in ihren Armen. Minuten vergingen und geborgen wie ich mich in diesem Augenblick fühlte, ich hätte den Rest meines Lebens dafür gegeben, es auf diese Art beenden zu dürfen. Lange Zeit schwieg maman Sofie.
Doch plötzlich seufzte sie auf und fing leise an zu sprechen.
„Ma chèrie, ich kann Dir Dein Leben nicht erklären. Ich kann Dir nicht erklären, warum Deine Mutter so gehandelt hat. Oder warum Dein Vater so ist, wie er ist. Aber solche Menschen, so glaube ich wenigstens, begegnen jedem. Mal früher, mal später. Ich kann Dir nicht sagen, warum Du in ein solches Leben hineingeboren wurdest. So gerne ich es würde. Vielleicht musstest Du in Deinen jungen Jahren so viel entbehren, um zu werden, was Du bist. Liebes, ich weiß es wirklich nicht.“ Abermals seufzte sie. Leicht verdutzt drehte ich mich aus ihrer Umarmung, um sie ansehen zu können. Ich fragte: „Sind Dir solche Menschen auch schon begegnet?“
Sie hieß mich wieder ihr gegenüber Platz zu nehmen. Gebannt verfolgte ich das Spiel ihres Gesichtes. Maman Sofie lehnte sich mit einem traurigen Lächeln in meine Richtung zurück in die Polster der Reisekutsche. Dann schaute sie mit einem wehmütigen Lächeln aus dem Kutschenfenster. Doch ich wusste, dass maman Sofie nichts von dem wahrnahm, was draußen an ihrem Auge vorbei zog. Sie schwieg eine Zeitlang.
„Habe ich Dir schon erzählt, dass ich eine jüngere Schwester hatte?“ Ich schüttelte verneinend meinen Kopf.
„Ja, Du hast recht, davon habe ich Dir noch nicht berichtet. Nur die Geschichten meiner Brüder und älteren Schwestern habe ich zum Besten gegeben, nicht wahr?“ Nun nickte ich in Richtung von maman Sofie.
„Nun chèrie, ich hatte eine jüngere Schwester. Ihr Name war Cecile und sie ist der Schatten meiner Vergangenheit. Lass Dir vorweg von einer alten Frau sagen, dass diese Schatten sich nie ganz auflösen werden. Sie sind da. Und sie bleiben und das ganz einfach aus dem Grund, weil Dinge passiert sind, die nicht hätten passieren müssen, nicht hätten passieren dürfen. Aber sie sind passiert. Es sind Dinge, die wir nicht verstehen. Noch heute denke ich oft an Cecile. Nicht täglich, aber doch sehr oft. Cecile war zwei Jahre jünger als ich und ein bildhübsches Mädchen. Schon damals merkte ich, dass sie anders war, anders als meine Geschwister und ich. Sie träumte immer davon, unabhängig zu sein und die großen Städte dieser Welt zu bereisen.“
Ich merkte an dem Blick von maman Sofie, dass sie in
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