Damals warst du still
neun zu Hause zu sein. Lukas ging es gut, er hatte in einer Mathe-Schulaufgabe eine Drei plus geschrieben, und das war für seine Verhältnisse sensationell. Anton hatte Lukas ans Telefon gerufen, damit Mona ihm gratulieren konnte, und das hatte Mona dann ausgiebig getan und versprochen, dass sie heute bei McDonald’s Abendessen würden, was ein Freudengeheul zur Folge hatte. Anton hatte dann im Hintergrund erklärt, er wolle auch mitkommen, und das hatte Lukas noch besser gefallen. Er mochte es, wenn sie zu dritt waren »wie eine richtige Familie«. Und eins musste man Anton lassen, bei all seinen nicht zu leugnenden Fehlern: Einen besseren Vater und Hausmann als ihn gab es nicht.
Mona unterdrückte ein Gähnen. Claudia Gianfranco sagte: »Muss ich das erzählen? Ich meine – das ist sehr privat. Ich weiß auch nicht, ob seine Familie das in Ordnung findet...«
»Leider ist das jetzt nicht relevant. Das ist ein Mordfall, und da gibt es keine Privatsphäre mehr.« Das mussten ihr Berghammer oder Fischer doch bereits gesagt haben. Oder hatten sie entsprechende Fragen gar nicht gestellt? Mona war nicht mehr dazu gekommen, das Protokoll vor der Vernehmung zu lesen, Berghammer hatte sie nur kurz über die wichtigsten Ergebnisse informiert. Mona wiederholte ihre Frage: »Was hat Herr Gianfranco über das Seminar berichtet?«
Claudia Gianfranco holte tief Luft und verschränkte ihre Arme, als sei ihr kalt. Die Wendung des Gesprächs schien ihr unangenehm zu sein – in Monas Augen ein gutes Zeichen. Zeugen, die zu schnell und zu ausführlich ins Detail gingen, neigten dazu, mangelndes Faktenwissen mit Erfindungen zu ersetzen. Im Grunde galt die Faustregel: Je flüssiger jemand erzählte, je besser alles zusammenpasste, je runder die Geschichte wirkte, desto misstrauischer musste man sein. Gute Erzähler waren immer begabte Lückenfüller.
»Also gut«, sagte die Frau. »Es ist im Grunde sehr schnell gesagt. Paolo war heroinsüchtig. Schon lange, bestimmt schon zwei Jahre. Es fing an, als er Arzt in diesem Programm wurde, das kranke Schwerstabhängige mit Heroin versorgt, damit sie es sich nicht mehr auf der Straße besorgen müssen und andere nicht mit AIDS anstecken.«
»Wann hat er angefangen, selbst Drogen zu nehmen?«
»Etwa ein halbes Jahr, nachdem er mit dem Programm begonnen hatte. Er hat es vor sich selbst so begründet, dass er wissen wolle, was in seinen Patienten vor sich gehe. Er hat es einmal genommen, dann noch einmal... Erst aus Interesse. Dann immer, wenn er sich ein High verschaffen wollte, weil es gerade nicht so gut lief.«
»Was lief denn nicht gut?«
»Unsere Ehe. Zum Beispiel.« In Claudia Gianfrancos Augen schien etwas auf, etwas Verletzliches, Schuldbewusstes.
»Ihre Ehe lief nicht so besonders, und da hat Ihr Mann sich mit Drogen getröstet«, sagte Mona betont sachlich. Sie wollte keine Gefühle, nicht in diesem Stadium. Gefühle waren manchmal hilfreich, aber häufiger verfälschten sie Tatsachen und legten falsche Spuren.
»Ja. So in etwa. Damals wusste ich das natürlich nicht. Später habe ich das Zeug in seinem Nachttisch gefunden.«
»Also gut, Ihr Mann war süchtig, Ihre Ehe lief nicht gut, Sie haben sich scheiden lassen. Was hatte das mit Herrn Gianfrancos Familie zu tun?«
»Tja, ich fand eigentlich, nichts. Ich habe ja den Sinn dieser Behandlung auch gar nicht verstanden. Aber Paolo, oder vielmehr dieser Therapeut – er hat da eine Art Muster gesehen. Paolo war der Erstgeborene. Sein Vater war ebenfalls der Erstgeborene, sein Großvater väterlicherseits ebenfalls. Und alle diese Männer standen angeblich unter dem Erfolgsdruck, Hervorragendes zu leisten, weil das wohl irgendein Urahn mal getan hat, und alle haben, was diese quasi implizite Forderung betraf, offenbar versagt. Der Großvater hat sich umgebracht, Paolos Vater war schwerer Trinker und ist an einem Leberschaden gestorben, und jetzt drohte Paolo dasselbe. So sah er es. Das war bei ihm angekommen: dass er selbst zum Tod verurteilt ist.«
»Aha«, sagte Mona ratlos. »Und was hat ihm Plessen geraten?«
»Das hört sich sehr einfach an. Er hat ihm geraten, diesen Auftrag abzulehnen«, sagte Claudia Gianfranco. »Soweit ich das richtig verstanden habe, hat er mit ihm eine Art Ritual durchgeführt. Es ging jedenfalls darum, diesen Auftrag abzulehnen, um den Erfolgsdruck von ihm zu nehmen.«
»Das ist doch ganz vernünftig.«
»Schon, aber das Ritual hat nicht... Ich weiß auch nicht, es hat wohl nicht richtig
Weitere Kostenlose Bücher