Damals warst du still
Tatsache war, dass sie trotz ihrer körperlichen Probleme keineswegs sterben wollte. Der Lebenswille, erkannte sie in hellsichtigen Momenten, starb ganz zuletzt, sicher ein Erbe aus archaischer Vorzeit, in der diejenige Art am längsten Bestand hatte, die am erbittertsten um ihr Dasein kämpfte.
Sie nahm eine alte Zeitschrift vom Stapel und blätterte sie durch, um die Zeit herumzubringen, bis sie den Fernseher einschalten konnte. Vormittags und mittags liefen nur Boulevardnachrichten oder Talkshows, in denen Menschen mit schadhaften Zähnen in mangelhaftem Deutsch aufeinander einbrüllten, und das konnte sie in ihrem Zustand nicht ertragen. Es war sehr still, nur der Regen rauschte vor ihrer Terrassentür. Sie war heute noch gar nicht draußen gewesen, hatte nicht einmal ein Fenster aufgemacht, aber es hatte sicher erheblich abgekühlt, und vielleicht kamen daher auch ihre Nierenschmerzen, redete sie sich ein, während sie ohne jedes Interesse Servicemeldungen überflog, in denen es um schlaues Steuernsparen, die perfekte Autopflege und neueste psychologische Erkenntnisse ging. Verheiratete Männer lebten länger als Singles, stand zum Beispiel in der Zeitschrift, wohingegen bei Frauen die Ehe keinerlei messbaren Effekt auf deren Lebensdauer hatte.
Soso.
Langsam nickte sie ein und träumte von ihrem Mann. Er saß auf einer Art Sessel mit einer Lehne aus schwarzen Federn. Er sah aus wie Gott und ermahnte sie, den Klempner zu benachrichtigen, weil der Abfluss wieder verstopft sei. Sein Zeigefinger fuchtelte vor ihrer Nase herum, und sie wollte zurückweichen, was aber nicht ging, da sich hinter ihr etwas wie eine Wand befand. Seine Stimme war viel sonorer als noch zu seinen Lebzeiten, ja, sie ertappte sich dabei, dass sie richtig Respekt vor ihm bekam – früher undenkbar, in ihrer Ehe hatte eindeutig sie die Hosen angehabt. Beeil dich, ich will dich hier haben, dröhnte die Stimme, und sie hörte sich zu ihrer eigenen Überraschung demütig antworten: Ja, Schatz, ich komme ganz bald zu dir. Und dann läuteten plötzlich liebliche Glöckchen, ein paar Schäfchenwolken zogen vorbei, die Sonne schien auf eine strahlend grüne Wiese, und ihr wurde ganz warm ums Herz.
Die Glöckchen hörten nicht auf zu klingeln, und schließlich wachte sie auf: Jemand läutete Sturm an ihrer Tür. Schlaftrunken tapste sie in die Diele und legte ihr Auge an den Spion. Ein Mann stand draußen. Er trug einen blauen Kittel und rief: »Paketpost.«
Sie wurde sofort misstrauisch. Seit vielen Jahren hatte ihr niemand mehr Pakete geschickt.
»Ich erwarte nichts«, rief sie durch den Briefschlitz.
»Es ist auch nicht für Sie. Ich wollte Sie fragen, ob Sie ein Päckchen in Empfang nehmen können«, sagte der Mann. Er hatte sich ebenfalls zum Briefschlitz heruntergebeugt, und sie sah seinen Mund. Rasch fuhr sie wieder hoch. »Für die Frau Smoltcyk«, hörte sie den Mann mit bittender Stimme sagen. Die fünfköpfige Familie Smoltcyk wohnte gegenüber, und Helga Kayser hatte kaum Kontakt zu ihnen, weil die Kinder frech waren und an den Wochenenden auf der Straße herumlärmten. Sie zögerte, ihre Hand hielt das Plättchen hoch, das den Spion bedeckte, wenn niemand heraussah.
»Das wäre sehr nett«, rief der Mann. Er hatte sich wieder aufgerichtet, sodass sie ihn gut sehen konnte. Er sah eigentlich normal und recht adrett aus, aber was hieß das schon?
»Sie müssen denen aber eine Nachricht hinterlegen. Ich geh nicht extra rüber!«
»Klar. Wir haben einen Vordruck, den werfe ich den... äh … Smoltcyks in den Briefkasten. Abholung ist deren Sache.«
Helga Kayser öffnete die Tür, nahm das Päckchen in Empfang und legte es auf die Konsole neben die Tür. Ihr fiel nicht auf, dass es zwar frankiert, aber nicht gestempelt war.
»Darf ich ganz kurz hereinkommen?«, fragte der Mann. Er war noch relativ jung und lächelte schief. »Ich müsste mal... Ich würde gern kurz Ihr Bad benutzen.«
»Nein«, sagte Helga Kayser. Vor solchen Bitten warnten einschlägige Fernsehsendungen seit Jahren, und sie hatte sich immer daran gehalten – man ließ, hieß es, die Kerle rein, und sie räumten einem die Bude leer, sobald man nicht hinsah, und manchmal passierte noch viel Schlimmeres. Außerdem war der Mann ihr nicht angenehm. Sie dachte an die Warnungen der Kommissarin.
»Bitte!«, sagte er, und es klang wie ein Flehen. Sein Gesicht war tatsächlich blass, fiel ihr auf. Vielleicht war ihm wirklich nicht gut, und sie... Aber nein, sie hatte ihre
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