Damals warst du still
Prinzipien. »Ich lasse grundsätzlich keine fremden Leute in mein Haus.«
»Na schön«, sagte der Mann, und es sah so aus, als gäbe er nach. Er trat sogar, Helga Kaysers Wahrnehmung zufolge, einen Schritt zurück, er schien sich umzudrehen, zu ducken, und …
In der nächsten Sekunde lag sie plötzlich auf dem Rücken, der Mann befand sich über ihr, sein Gesicht war sehr groß, und sie sah vergrößerte Poren und ein paar rote Pickel auf seinem Nasenrücken, Akne, dachte sie, als ob das in irgendeiner Weise von Belang wäre, und dann spürte sie, wie er ihre Arme auf den Boden presste.
»Ganz ruhig«, keuchte er, »dann passiert Ihnen nichts«, aber sie glaubte ihm kein Wort, sie erkannte die Gefahr in seinen ausdruckslosen Augen, an der hektisch pochenden bläulichen Ader an der rechten Schläfe, sie nahm überhaupt so viel wahr, wie selten: Seine brennend roten Lippen, die aus der Nähe wie zerbissen aussahen, seine gelblichen Zähne, die ihr länger und breiter schienen als normal, seinen Mundgeruch, der ihn als Kaffeetrinker auswies. Seine Augen. Sie waren grau wie Kieselsteine, die Pupillen winzig wie Pfeilspitzen. Sie wusste: Wenn sie überleben wollte, musste sie sich wehren. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, aber es kam nur ein verängstigtes Quieken heraus. Der Mann richtete sich auf, geschmeidig wie ein Tier. Er bückte sich zu ihr herunter, packte sie unter den Achseln und schleifte sie ins Haus, als wäre sie leicht wie ein Kind. Und während sie verzweifelt versuchte, ihre Stimme wiederzufinden, knallte ihr Kopf an eine Stufe und die Tür fiel ins Schloss. Es wurde dunkel um sie herum.
Benommen versuchte sie, sich aufzurichten, aber der Mann presste nun ein Knie auf ihren Brustkorb, was sie völlig bewegungsunfähig machte. Sie spürte den kalten Steinboden der Diele und hatte zum ersten Mal in ihrem Leben akute Todesangst. Sie sah zu ihm hoch, wollte etwas sagen, etwas fragen, aber er beachtete sie gar nicht. In seiner rechten Hand hielt er eine Spritze, mit der linken nahm er den transparenten Plastikschutz der Nadel ab, und nun wusste sie, was ihr blühte.
Heroin. Die Kommissarin hatte Recht gehabt. Heroin. Ein sanfter Tod, falls sie sich nicht weiter wehrte, das hatte sie selbst gesagt: dass es das war, was sie sich doch eigentlich nur wünschen konnte. Aber den Moment des Sterbens wollte sie sich schon selbst aussuchen, und ganz sicher sollte es nicht hier geschehen, in dieser unwürdigen, peinlichen Situation, während ihr die Perücke verrutschte! Die Schmerzen in der Niere waren wie ausgelöscht durch den Schock, und wer wusste schon, vielleicht gehörte sie doch zu jenen Ausnahmen, von denen man immer las, die Krebs überlebten und viele Jahre später ruhig in ihren Betten entschliefen …
Sie räusperte sich. Vielleicht wenn sie ganz ruhig mit ihm redete …
»Wer sind Sie?«, krächzte sie.
Der Mann sah auf sie herunter, mit spöttischem Grinsen. »Hallo, Großmutti«, sagte er, und jetzt erkannte Helga Kayser, wie lange er sich auf diesen Moment vorbereitet hatte, auf diese Wahrheit, die er ihr nun endlich ins Gesicht schleudern konnte. »Ich bin dein kleiner Enkel. Weißt du noch?«
Sie schloss die Augen. O ja, sie erinnerte sich an ihre Besuche, damals als die Mauer noch stand. Sie erinnerte sich an seine Schwester, die schon mit vierzehn Flittchen-Manieren gezeigt hatte, und natürlich auch an ihn, dieses finstere, abweisende Kind – nein, sie hatte weiß Gott keine großmütterlichen Gefühle für diese Brut aufbringen können. Und ihre Schwiegertochter erst, die überhaupt nicht zu ihrem Sohn passte, genauso wenig wie dieser unsympatische Nachwuchs, von dem sich Helga Kayser nie vorstellen konnte, dass es wirklich seiner war (dumm nur, dass die rein physische Ähnlichkeit zumindest damals nicht zu leugnen war)… »Mein Gott«, sagte sie schwach. Sie hatte sich schuldig gemacht, das stimmte. Nach dem Tod ihres Sohnes hatte sie den Kontakt zur Familie einfach eingestellt. Das war – nicht nett gewesen, sie gab es vor sich selbst zu. Sie hatte noch ein paar Jahre lang die üblichen Weihnachtspäckchen geschickt – sie fielen von Jahr zu Jahr kleiner aus; zum Schluss waren nur noch Schokolade und Kaffee drin gewesen -, aber nachdem die Familie nicht mal Dankesbriefchen geschrieben hatte, hatte sie auch das eingestellt.
Der Mann nahm ihren rechten Oberarm und band ihn mit einer Art Stoffgürtel ab. Diese Bewegungen waren Helga Kayser aus der Klinik vertraut, und
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