Damals warst du still
ihm zu, frontal, damit Fischer sie nicht länger von der Seite angehen konnte. »Klassische Nachahmertat. Mehr nicht. Vielleicht wollte er sich nicht einmal umbringen, vielleicht hat ihm nur die Sache mit den Buchstaben irgendwie gefallen. Vielleicht war die Überdosis ein Versehen.«
»Blödsinn!«
»Denn«, fuhr Mona fort, »Ihr wisst so gut wie ich, dass die Überdosis nur gering war. Hätte man ihn rechtzeitig gefunden, wäre er gerettet worden. Das stimmt doch, oder?«
Schweigen breitete sich aus. Es stimmte, Herzog hatte es ihr fünf Minuten vor der Konferenz bestätigt. »Es kann ein Versehen gewesen sein und dann...«
»Blödsinn«, unterbrach sie Fischer zum zweiten Mal, und nicht einmal er hätte sich diese Unverschämtheiten herausgenommen, wenn er nicht sicher gewesen wäre, dass Berghammer ihm den Rücken stärken würde. »Man ritzt sich keine Buchstaben in die Haut, um dann...«
»Ja«, sagte Mona. »Was? Um was zu tun? Sich umzubringen? Diese ganzen Vorbereitungen, und dann hat er nicht mal an einen Abschiedsbrief gedacht?«
»Die Buchstaben auf seinem Arm – das war doch sein Abschiedsbrief! Das sieht doch...«
»Das ist schon möglich«, sagte Mona. »Möglich, Hans, – mehr nicht. Alles andere ist Spekulation, ich bleib dabei. Es würde uns gut in den Kram passen, aber ich sehe Gianfranco trotzdem nicht als Täter. Mord im Affekt – das vielleicht. Aber nicht Heimtücke. Kein von langer Hand vorbereiteter Racheakt. Kein Mann, der sich ewig mit der Materie beschäftigt, der die perfekte Gelegenheit abwartet, der absolut planvoll vorgeht, bevor er zuschlägt.«
»Tolle Analyse , Mona. Wirklich... tief gehend . Bist du unter die Psychos gegangen, hab ich da was verpasst?«
»Hört auf«, sagte Berghammer. Er machte eine Miene, als würde ihn das alles nichts angehen, aber Mona kannte ihn gut genug um zu wissen, dass es in ihm brodelte.
»Gern«, log Mona, während sich im Konferenzraum Grabesstille ausbreitete. Bis spätestens heute Abend würde die Fehde Fischer gegen Seiler im ganzen Dezernat die Runde gemacht haben, und in diesem Moment hasste Mona Fischer so leidenschaftlich, dass sie sich zusammennehmen musste, um nicht zum tätlichen Angriff überzugehen. Aber immerhin sah sie Fischer an – nein: Sie starrte ihn nieder, so lange, bis er mit verbissenem Gesicht den Kopf abwandte. Ein kleiner Sieg, aber ein Sieg. Dem noch mehrere folgen mussten: Sie musste Fischer ausschalten, ein für alle Mal, bevor er dasselbe mit ihr tat. Es gab keine Zusammenarbeit mit diesem Mann; sie hatte das viel zu lange nicht einsehen wollen.
»Vorschlag zur Güte«, sagte sie zu Berghammer, bevor der sich etwas ausdenken konnte, was sie noch mehr Zeit kostete als die Geschichte mit Gianfranco.
»Mona...«
»Ich ermittle weiter Richtung Plessen und Patrick hilft mir. Ihr konzentriert euch auf Gianfranco.«
»Also...«
»Du sagst auf der PK, wir untersuchen zurzeit den Selbstmord eines Arztes, der Patient von Plessen war und eventuell mit der Tat in Verbindung gebracht werden kann. Wahrscheinlich haben die Medien den Zusammenhang sowieso schon hergestellt.«
Berghammer sagte nichts darauf. Er betrachtete sie mit einem Ausdruck, den sie nicht recht deuten konnte, aber etwas sagte ihr, dass sie gewonnen hatte.
Fürs Erste.
»Okay?«, fragte Mona.
»Mach, was du willst«, sagte Berghammer schließlich mit einer Stimme, die zwischen Resignation und unterdrückter Wut schwankte, und der Rest der Runde spitzte überrascht die Ohren, denn so einen Spruch hatte noch niemand von ihm gehört.
32
Donnerstag, 24. 7., 13.00 Uhr
Bei Kindern schlich die Zeit im Minutentakt, bei Erwachsenen raste sie im Stundentakt, und bei alten Menschen zirkulierte sie um sich selbst. Helga Kayser hatte immer noch ein hervorragendes Gedächtnis, aber für sie war die Zeit kein Fluss mehr mit einer definierten Richtung, sondern ein See, in den sie eintauchte, wann es ihr beliebte. Dann durchdrangen sich Gegenwart und Vergangenheit, als wären sie eins, und es spielte plötzlich keine Rolle mehr, ob ein Ereignis fünf Minuten oder fünfzig Jahre zurücklag – die Intensität der Erinnerung veränderte sich nicht mehr. Und es gab noch andere Phänomene, die sie an sich beobachtete, seitdem sie die siebzig überschritten und ihr Mann sie als Witwe zurückgelassen hatte. Woran sie sich zum Beispiel niemals gewöhnen konnte, war die zunehmende Gebrechlichkeit, die sich durch die Operationen und die anschließenden qualvollen
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