Damals warst du still
Behandlungen noch verstärkt hatte. Jeden Tag wachte sie auf und ärgerte sich über ihren Körper, der sie immer mehr im Stich ließ. Was so gar nicht mit dem Lebensgefühl übereinstimmte, das sich bei Helga Kayser irgendwo zwischen fünfzig und sechzig eingependelt hatte – eine der wenigen Illusionen, die sie sich noch leistete, denn vor sich selbst zuzugeben, dass man auf die achtzig zuging? Da konnte man, dachte sie, doch gleich dem Sensenmann eine persönliche Einladung zukommen lassen!
Ging das allen alten Leuten so? Sie wusste es nicht, es interessierte sie auch nicht. Sie sprach ohnehin kaum noch mit anderen Menschen, außer das Notwendigste, zum Beispiel beim Einkaufen oder bei den wöchentlichen Nachuntersuchungsterminen im Krankenhaus. Ihre Nachbarin zur Rechten, mit der sie sich viele Jahre lang recht gut verstanden hatte, war vor einigen Wochen gestorben, das Haus zur Linken stand zum Verkauf, seit sein Besitzer in ein Seniorenwohnheim gezogen war. Helga Kayser war nie schüchtern gewesen, aber jetzt, im Alter, hatte sie jede Lust verloren, neue Kontakte zu knüpfen. Sie hatte genug erlebt, genug Leute gekannt, kein weiterer Bedarf, danke schön!
Dieser Donnerstagmorgen war, wie so oft, eine Quälerei gewesen. Sie hatte Nierenschmerzen und wieder einmal Blut im Urin, und was das bedeutete, brauchte ihr kein so genannter Experte zu erzählen. Sie beschloss dennoch, nicht schon heute, sondern erst wieder am nächsten Montag, ihrem regulären Termin, in die Klinik zu gehen. Sie wusste nicht, wie lange sie diesen Entschluss durchhalten konnte – ging es einem schlecht, war Einsamkeit doppelt schwer zu ertragen -, aber schon der Gedanke an das hilflose Gesicht ihres Arztes nahm ihr jeden Elan. Die Medizin, so stand es überall zu lesen, hatte unglaubliche Fortschritte gemacht; Krankheiten, die noch vor einem Jahrhundert als Todesurteil galten, konnten heute ruckzuck geheilt werden.
Woran lag es also, dass die Ärzte sich heutzutage unsicherer benahmen als jeder medizinische Laie?
In ihrer Jugend hatte es sich doch um einen geachteten Beruf gehandelt! Ein Herr Doktor, erinnerte sie sich, konnte sich des demütigen Respekts seiner Patienten sicher sein, und war auch entsprechend aufgetreten: selbstbewusst und mit dieser onkelhaft-allwissenden Autorität, die besser gewirkt hatte als jedes Medikament. Heute gaben einem Ärzte nicht einmal mehr Ernährungsratschläge. Nehmen Sie Ihre Medizin, essen Sie, was Ihnen schmeckt, und wenn Sie was nicht vertragen, lassen Sie es weg, hieß es unisono. Was doch nichts anderes bedeutete als: Was immer Sie versuchen, um Ihre Krankheit aus eigener Kraft in den Griff zu bekommen, ist völlig umsonst. Vielleicht äußerte sich auf diese Weise einfach nur der typische Frust der Onkologen. Kein Wunder, schließlich ging es mit den Heilchancen ausgerechnet jener Krankheit, der sie sich verschrieben hatten, überhaupt nicht voran. Helga Kayser jedenfalls war bereits recht direkt und schonungslos mitgeteilt worden, dass es in ihrem Fall keine Hoffnung mehr gab. Man könne ihr aber eine Kur verschreiben, falls sie das wünsche, ein Angebot, das Helga Kayser umgehend abgelehnt hatte. Eins wollte sie sich bestimmt nicht auch noch zumuten: den Anblick anderer todgeweihter Patienten in fortgeschrittenen Stadien des Siechtums, an denen sie ihren Zustand in naher Zukunft studieren konnte.
Heute Morgen hatte sie sich mühevoll angezogen – der Schmerz war geblieben, dumpf und monoton – und versucht, ohne Appetit etwas zu frühstücken. Aber das sorgfältig mit Butter und Honig bestrichene Brötchen war dann doch unberührt auf ihrem Teller liegen geblieben, und zu sich genommen hatte sie nur ihren geliebten Milchkaffee mit viel Zucker und einem Schuss Sahne. Nun saß sie schon seit Stunden auf ihrem Sofa in ihrem Wohnzimmer und sah in den Regen hinaus, als Gesellschaft nur den Schmerz, der sie nicht eine Sekunde lang allein ließ.
Als jüngere Frau hatte sie sich natürlich ab und zu Gedanken darüber gemacht, was sie in einem hoffnungslosen Krankheitsfall wie dem ihren tun würde, und sie war sich sicher gewesen, dass sie ihrem Leben im richtigen Moment selbst ein Ende setzen würde. Aber geriet man dann wirklich in die Situation (die man, war man ehrlich, nie für möglich gehalten hätte; solche Katastrophen betrafen doch immer nur andere!), stellte sich die Sache mit dem freiwilligen Abgang etwas anders dar. Egal, was Helga Kayser gestern zu der Kommissarin gesagt hatte,
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