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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa von Bernuth
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es eben so gekommen, und letztlich hat sich für mich alles zum Besten gewendet – bitte glaub mir, dass es so ist! Ich möchte nirgendwo anders leben, obwohl manches natürlich nicht so leicht ist wie bei euch. Dennoch habe ich nicht den Eindruck, dass es euch summa summarum besser geht als uns. Es gibt ja noch mehr als irdische Güter. Es gibt stimulierende Ideen für unsere Gegenwart und viele Hoffnungen auf eine Zukunft, die bestimmt hält, was jetzt versprochen wird. Bei euch hingegen scheint mir alles schon so »fertig« zu sein, wenn du verstehst, was ich meine. Perfektion hat auch etwas Lebloses, Reizloses. (…)
     
    30. April 1979
    Liebe Mutter,
    ja, der Schmerz ist furchtbar. Ich weiß nicht, wie man mit so etwas fertig wird, ich kenne niemanden, dem so etwas widerfahren ist.
    Ferdinand war ein so liebes Kind, so zutraulich und strahlend, dass der Unfall wie eine besonders perfide Strafe wirkt – wenn wir nur wüssten, wofür! Wie kann ein gesundes Kind in seinem eigenen Bett ersticken? Es gibt eigentlich keinen Grund für so etwas. Ferdi war längst aus dem Alter des plötzlichen Kindstodes raus, ich weiß nicht, was da passiert ist, ich kann mir keinen Reim darauf machen.
    Es hat eine Obduktion gegeben, unsere Kollegen in der Klinik waren wunderbar, sie haben sich wahnsinnige Mühe gegeben, aber das alles hat nichts ergeben. Das Leben erscheint mir so grau und so leer, dass ich es manchmal am liebsten beenden würde, aber das kann ich meiner Familie nicht antun, ich kann nicht einmal mit jemandem darüber sprechen. Deshalb bin ich so froh, dass ich dich habe. Seitdem Vater nicht mehr lebt, bist du der Mensch, dem ich am meisten vertraue. Ohne dich hätte ich wahrscheinlich nicht die Kraft, um weiterzumachen. (…)
     
    Längst saß Mona allein in der Küche und arbeitete sich systematisch durch die Briefe, während Fischer, Berghammer und die anderen das obere Stockwerk und das Dachgeschoss durchsuchten.
    6. September 1979
    (…) Die Zeit heilt angeblich alle Wunden, aber bei uns scheint sie eine Ausnahme zu machen. Wir sind immer noch am Boden zerstört, aber dieser Zustand scheint uns nicht zu verbinden, sondern unwiderruflich auseinander zu treiben. Jeder von uns leidet anders. Ida treibt sich in jeder freien Minute mit dummen halbwüchsigen Jungs aus der Nachbarschaft herum, und das mit zwölf! Sie ist in den letzten Monaten gewachsen, sie hat einen Busen bekommen, und die meisten halten sie bestimmt für wesentlich älter, als sie ist. Ich möchte nicht wissen, welche Erfahrungen sie bereits gemacht hat. Ich werde es auch nicht erfahren, denn Ida wird den Teufel tun und uns ins Vertrauen ziehen. Hannes, unser hübscher, zarter Hannes, der sich trotz seiner leichten Behinderung so gut gemacht hat, spricht nun kaum noch und wirkt mit seinen sieben Jahren manchmal regelrecht debil. Er bringt anständige Noten nach Hause, aber er hat so gut wie keine Freunde. Ist das normal mit sieben? Kommen Freunde später? Ich habe keine Ahnung.
    Warum schmiedet Leid Familien nicht zusammen, sondern lässt sie im Gegenteil auseinander brechen, kannst du mir das sagen? Kennst du diese Erfahrungen? Ich weiß, du bist nicht mehr ganz jung, du hast deine eigenen Probleme, und ich würde dich mit solchen Fragen nicht belasten, wenn ich jemanden hätte, mit dem ich reden könnte. Aber meine Umgebung... Ich glaube, sie wollen mir nur helfen, wenn sie sagen, dass wir noch zwei andere wohl geratene Kinder haben, dass wir uns auf sie konzentrieren sollen, dass wir das Vergangene ruhen lassen sollen. Aber das Vergangene kommt mir so gegenwärtig vor, als würde es Tag für Tag aufs Neue geschehen. Ich sehe unseren Ferdi vor mir, süß und lustig. Ich träume von ihm, und dann wache ich auf, und es gibt diese paar Sekunden, in denen der Traum die Wirklichkeit überstrahlt, und ich glaube, dass alles wie früher ist. Die Erkenntnis, dass nichts mehr so sein wird, wie es war, überfällt mich jedes Mal wie ein Schlag, und ich möchte dann am liebsten sterben, um weiterträumen zu können.
    Unserer Ehe, du kannst es dir denken, hat das Unglück ebenfalls nicht gut getan. Susanna geht es noch schlechter als mir. Sie trinkt eine Menge, mehr, als für sie gut ist. Und wenn sie betrunken ist, wird sie streitsüchtig und wirft mir absurde Versäumnisse vor, mit Worten, die ich gar nicht wiedergeben kann. Wir sind beide sehr froh, dass wir unsere Arbeit haben. Der durchgeplante Alltag hilft uns, das Namenlose von uns wegzuschieben, so

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