Damals warst du still
und legte den Sack zu den anderen Sachen zurück. Aber sie kam nicht los von dem Gedanken: wie sich Herr Kayser, damals noch relativ jung, die Mühe gemacht hatte, dieses Versteck zu basteln, obwohl es doch damals bereits Tresore gab, die viel sicherer waren. Aber darum war es dem Paar wahrscheinlich in Wirklichkeit gar nicht gegangen. Eher um das gemeinsame Geheimnis, das niemand gekannt hatte außer ihnen selbst. Sie waren einmal jung, und sie haben sich geliebt , dachte Mona. Sie stand auf. »Lass uns mal einen Blick auf die Briefe werfen«, sagte sie zu Fischer.
Er ging hinter ihr die Treppe hoch, sein Gesicht wieder so undurchdringlich wie eh und je. In der Küche schob sie ihm einen Stuhl zu und setzte sich selbst ebenfalls wieder hin. Sie nahm den Packen der Briefe – es waren insgesamt bestimmt zwanzig, und sie sahen allesamt alt und zerknittert aus – in die Hand, teilte ihn in zwei ungefähre Hälften und schob Fischer eine zu. Dann sah sie auf die Absender und die Poststempel ihres Packens. Einige waren verschmiert und unleserlich. Die anderen datierten alle aus dem Jahr 1979. Der Absender war immer derselbe: Frank Staller aus Markheide, Deutsche Demokratische Republik.
»Markheide«, sagte Mona, und Fischer sah von seinem Packen auf. Seine Augen waren rot gerändert vor Müdigkeit.
»Und?«, sagte Fischer.
»Nichts«, sagte Mona. »Ich les jetzt mal einen der Briefe. Ich könnte mir vorstellen, der stammt von ihrem Sohn.«
»Die Kayser hat einen Sohn?«
»Ja. Von ihrem ersten Mann. Der Sohn ist Mitte der Achtzigerjahre gestorben. Krebs. Warte mal.« Mona holte das abgetippte Gesprächsprotokoll mit Helga Kayser aus ihrer Tasche und blätterte es durch. »Da steht’s: Der Vater ihres Sohnes hat sich mit dem Sohn in den Osten abgesetzt, als die Mauer noch nicht stand. Und der Sohn hat sich wahrscheinlich in Markheide niedergelassen. Scheint irgendein Ort im Osten zu sein.« Sie holte den Brief aus dem Umschlag. Das linierte Papier war grau und wirkte billig, die verblasste blaue Schrift war nur schwer zu entziffern. Fischer schob ihr stumm den Rest der Briefe zu. Sie bemerkte es kaum.
2. Januar 1979
Liebe Mutter,
bitte entschuldige, dass ich jetzt erst schreibe, aber vor und nach der Jahreswende geht es in der Klinik immer rund. Die Leute trinken zu viel und werden krank oder aggressiv... Das ist hier sicher nicht anders als bei euch. Es geht mir und den Kindern gut. Wir kommen zurecht, danke. Du musst das nicht immer fragen, wir leben nicht in einem Entwicklungsland. Wir leiden keinen Hunger, wirklich nicht, wir haben alles, was wir für den täglichen Bedarf brauchen (wenn auch nicht viel mehr, aber es soll sich ja alles in den nächsten Jahren bessern!) Danke auch für das Paket, es ist gut angekommen, wurde nicht gefilzt, die Schokolade und der Kaffee sind köstlich. Ich möchte aber eigentlich nicht, dass du dich unseretwegen dauernd in Unkosten stürzt. (…)
Der Brief war relativ kurz, der Inhalt, soweit Mona es beurteilen konnte, vollkommen belanglos. Sie öffnete einen zweiten, datiert vom 8. März desselben Jahres.
(…) Unser kleiner Ferdinand kann nun schon recht gut laufen, danke der Nachfrage. Er zieht sich meistens am Tischbein hoch und strahlt dann vor Stolz, wenn es klappt. Er ist überhaupt ein süßes Kind, ganz anders als unsere Ida, die von Anfang an ein Trotzkopf war und sich so schwer einordnet, dass wir uns manchmal richtig Sorgen machen. Hannes hingegen entwickelt sich ganz viel versprechend.
Wir arbeiten beide sehr viel, deshalb ist es nötig, dass die Kinder tagsüber in der Schule, beziehungsweise in der Krippe betreut werden. Hier ist es normal, dass die Mütter berufstätig bleiben, und ich habe nicht den Eindruck, dass es den Kindern schadet, wenn sie mit anderen Kindern zusammen sind.
Ich weiß, du denkst, sie werden »indoktriniert«. Ich weiß nicht, woher du diese Vorurteile nimmst. Du weißt doch gar nicht, wie unser Land funktioniert, du hast doch niemals hier gelebt. Aber lass uns darüber nicht streiten. Du bist glücklich dort, wo du bist, ich bin glücklich hier. Es war damals, als du mich verloren hast, sicher schwer für dich, wir haben ja oft darüber gesprochen, und du hast es immer wieder erzählt. Denk nicht mehr so viel an die Vergangenheit. Dass mein Vater damals mit mir in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verschwand und mich mitgenommen hat, tut mir heute noch Leid für dich. Ich kann dir deine Verzweiflung gut nachfühlen, aber nun ist
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