Damals warst du still
Sicherheitsriegel, die ihr von einem schlauen Vertreter angedreht worden waren. Einer von denen, der die Ängste einsamer alter Frauen vor Einbruch und Schlimmerem genau kannte, obwohl die Gefahr, statistisch gesehen, verschwindend gering war.
Die Tür ging auf, kein Sicherheitsriegel, vor Mona stand eine dünne alte Frau mit schlohweißem Haar, das sich bei näherem Hinsehen als Perücke entpuppte, die schief saß. Darunter ein kleines, runzliges Gesicht mit harten Zügen. Helga Kayser war nur fünf Jahre älter als ihr Bruder, aber sie schien einer völlig anderen Generation anzugehören. Da bestand nicht die geringste Familienähnlichkeit, und Mona wunderte sich nicht mehr, dass die beiden keinen Kontakt hatten.
»Tja«, sagte die Frau, Mona misstrauisch von oben bis unten musternd, ohne sie hereinzubitten. »Ich weiß ja nicht, was das hier für einen Sinn haben soll.«
Mona war nicht in der Stimmung für eine weitere Diskussion. Wenn das so zäh weiterging, wie es sich anließ, dann musste sie andere Töne anschlagen. Es ging schließlich um das Leben dieser Frau.
»Kann ich bitte reinkommen?«, fragte Mona höflich, aber mit einem Blick direkt in die kleinen blauen Augen der Frau, der ausdrücken sollte, dass jeder Widerspruch zwecklos war.
Die Frau starrte furchtlos zurück und rührte sich nicht von der Stelle.
»Frau Kayser. Ich will Ihnen keine Angst machen, aber ich kann natürlich auch Kollegen aus der Stadt anfordern, mit Blaulicht und allem. Und dann kriegen die Nachbarn die Sache mit. Wäre Ihnen das lieber?«
Die Drohung mit den Nachbarn hatte gewirkt; Helga Kayser trat mit widerwilligem Gesichtsausdruck vom Türrahmen zurück und ließ Mona eintreten, indem sie sich an die Wand des Flurs stellte und ihren Bauch einzog. Trotz der Hitze trug sie eine lange graue Wolljacke und einen schwarzen Rock aus dickem, filzig aussehendem Material. Das Erste, was Mona auffiel, als Helga Kayser sie durch den engen Eingangsbereich in ein mit uraltem Mobiliar eingerichtetes düsteres Wohnzimmer führte, war der Geruch. Dabei war daran nun wirklich nichts Besonderes; Mona kannte ihn aus unzähligen ähnlichen Wohnungen alter Leute. Er war stark und unverwechselbar, er setzte sich zusammen aus dem Körpergeruch immer derselben Personen, aus chemischem Teppichreiniger, Möbelpolitur, Staub, den Ausdünstungen diverser Haustiere und jenem geheimen Schmutz, der sich über die Jahre in den Ecken und Ritzen absetzte und auf die Dauer selbst den stärksten Putzmitteln widerstand. Mona konnte nicht anders, als ihn mit Verfall und Tod zu verbinden.
Sicher war: Frau Kayser lebte schon sehr, sehr lange hier.
»Wollen Sie einen Kaffee?«, fragte Frau Kayser unfreundlich.
»Haben Sie vielleicht ein Mineralwasser?«
»Mineralwasser? Nein.«
»Dann für mich nichts, danke«, sagte Mona. Sie war sicher, dass die alte Frau log. Wer hatte heutzutage kein Mineralwasser im Kühlschrank?
»Schön, dann werde ich mir einen Kaffee machen, wenn’s recht ist.«
»Natürlich«, sagte Mona. »Ich hab Zeit.« Das stimmte nicht ganz. Sie würde diese Nacht zwar in Marburg verbringen müssen und hatte es überhaupt nicht eilig, in ihr hässliches Hotelzimmer am Hauptbahnhof zu kommen. Aber sie musste vor neun Uhr mit Berghammer telefonieren, damit er über die neuesten Informationen verfügte. Um neun Uhr hatte Berghammer Plessen vorgeladen. Und dann war da noch David Gerulaitis, der sich seit zwei Tagen nicht gemeldet hatte. Ihn musste sie ebenfalls anrufen, auch wenn sie sich davon nicht mehr viel versprach. Seitdem sie wusste, dass Plessen bezüglich seines Sohnes nicht die Wahrheit gesagt hatte, hatte sie sich innerlich auf ihn eingeschossen.
Und das war, wenn Mona ehrlich war, auch der Grund, weshalb sie unbedingt mit seiner Schwester sprechen wollte. Nicht dass sie wirklich glaubte, dass Plessen seinen Stiefsohn oder seine Patientin umbringen würde. Aber es hatte einen Grund, dass Plessen gelogen hatte, sie war sich dessen sicher, und dieser Grund hing mit den beiden Taten zusammen.
Auch wenn sie keine Idee hatte, auf welche Weise.
Helga Kayser verließ den Raum. Mona sah ihr hinterher und bemerkte, dass sie leicht hinkte. Ihre Beine waren mager und wirkten steif. Mona zündete sich eine Zigarette an, absichtlich ohne zu fragen, denn Frau Kayser verdiente es nicht besser. Sie stand auf und ging zur Terrassentür, die in ein schmales, schattiges Gärtchen führte. Wäre sie Berghammer gegenüber nicht so stur gewesen,
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