Damals warst du still
Nervosität attestiert und die Meinung geäußert, dass er eine Menge Probleme verdränge und dass sich das eines Tages rächen könnte. Sie dürfen nicht alles herunterschlucken, hatte er gesagt und ihm ein paar Therapiestunden angeboten, woraufhin David den armen Kerl mehr oder weniger ausgelacht hatte. Niemanden ging es etwas an, was in ihm passierte, niemand hatte ein Recht, auch nur einen flüchtigen Blick in seine Seele zu werfen, aber die Sache war die: Fabian hatte sich an dieses Verbot nicht gehalten.
Fabian hielt sich an überhaupt keine Verbote. Wenn, dann stellte er seine eigenen Regeln auf, und nun war David in diesen Regeln gefangen wie eine Fliege im Spinnennetz.
David starrte auf seine »Familie«, die er selbst so angeordnet hatte. Helmut war sein »Vater«, Franziska seine »Mutter«, Sabine seine »Schwester«, Helmut war »David«. Er hatte sie platziert, ohne zu bemerken, dass er damit etwas aussagte. Mehr, als er hatte voraussehen können. Danae stand zu eng bei ihm. Seine Eltern standen nebeneinander und sahen geradeaus, an ihren Kindern vorbei, die David zu weit links von ihnen platziert hatte, als dass die Eltern sie noch hätten im Blick haben können. Eltern, die ihre Kinder nicht sehen konnten, mussten als Eltern versagen. Warum hatte er das getan? Er mochte seine Eltern, er fand nicht, dass sie etwas falsch gemacht hatten bei ihrer Erziehung, und dennoch war er aufgewühlt wie noch nie in seinem Leben.
Sein Vater stand vor ihm, blass vor Zorn, diesmal nicht wegen einer Socke, sondern... David wusste es nicht. Es war egal. Sein Vater erschien ihm so riesig, dabei war er doch ein eher kleiner, drahtiger Mann. Sein Zorn machte ihn so groß. Sein Vater hatte einen Polizeiknüppel in der Hand und schlug zu. David löste sich aus seinem Körper, sein Blick fiel auf das Plakat mit dem weißen Haus und den blauen Fensterläden und den roten Rosen neben der Tür. Santorini. Er vertiefte sich in dieses Bild, solange die Prügel eben dauerten, und es gelang ihm, fast nichts zu spüren. Sein Großvater stammte von dieser Insel, und sein Vater wollte eines Tages wieder dahin zurückkehren, aber dann hatte er sich als junger Mann in seine Mutter verliebt und war anschließend auf die Polizeischule gegangen und Polizist geworden. Und währenddessen waren David und Danae auf die Welt gekommen. Und plötzlich waren sie zu viert, und zu viert war ein Urlaub auf Santorini sehr teuer, und so kam es, dass sie nie dort gewesen waren. Kein einziges Mal.
Dafür war sein Vater eines Tages woandershin versetzt worden, an einen idyllischen Ort, ein kleines, stockkonservatives Nest in der Mitte von Nirgendwo. Hier sollte eine atomare Wiederaufbereitungsanlage entstehen, und die Polizisten, unter ihnen auch sein Vater, sollten den Bau schützen: vor jenen Demonstranten, die aus unverständlichen und bestimmt nur vorgeschobenen Gründen gegen die attraktiven Arbeitsplätze waren, die dem Ort seinen neuen Reichtum nicht gönnen wollten. So sah es das Dorf, so wurde es den Polizisten berichtet, die willkommen waren als Beschützer. Die eingeladen wurden, beim Metzger für ihre Brotzeit keinen Pfennig zu bezahlen brauchten, im Wirtshaus freigehalten wurden. So dankbar war man ihnen hier.
Und dann waren vier lange Jahre vergangen, zweihundertacht Wochen, mindestens, zweihundertacht mal fünf Arbeitstage, eine Ewigkeit für einen jungen Mann, wie es sein Vater damals war. Sein Vater hatte auch später kaum etwas über diese Zeit erzählt, aber David selbst war einmal dort gewesen, lange danach, und er hatte erfahren, was dort wirklich los gewesen war. Wie die Demonstranten der Staatsgewalt einfach nicht weichen wollten, wie die Polizisten dank einer neuen Direktive des Innenministeriums genötigt wurden, so brutal vorzugehen, dass sich im Laufe der Zeit das gesamte Dorf auf die Seite der Demonstranten stellte. Und die Polizisten beim Metzger nicht mehr bedient wurden, im Wirtshaus nichts mehr zu essen bekamen. Und geholfen hatte es gar nichts.
Der Hass, sagte sein Vater damals, der ist so schwer zu ertragen. Den hält man kaum aus. Das war alles, was er sagte. Ansonsten schwieg er und schaltete um, sobald im Fernsehen wieder und wieder die schaurig-schönen Flutlichtbilder mit den mächtigen Wasserwerfern gesendet wurden und den kläglich aussehenden jungen Männern und Frauen im nassen, kalten Schlamm, die so eine erstaunliche Hartnäckigkeit an den Tag legten.
Sein Vater konnte nichts machen. All seine
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