Damals warst du still
könnte sie in spätestens zwei, drei Stunden auf Antons Dachterrasse sitzen, ein paar Gläser Wein trinken, den Tag Revue passieren lassen. Aber sie hatte ja unbedingt hierher gewollt. Mona öffnete die Tür und blies den Rauch in den Garten hinaus. Ein paar Vögel zwitscherten, ansonsten herrschte absolute Ruhe. Eine schwarzweiß gefleckte Katze kam hinter einem Busch hervor und trabte auf Mona zu, ganz offensichtlich vertraut mit den Gegebenheiten.
»So, meine Liebe, wir können anfangen«, tönte es von hinten. Mona drehte sich um. Frau Kayser hatte es sich bereits auf dem Sofa gemütlich gemacht (für Mona blieb damit nur ein schmaler Stuhl als Sitzgelegenheit) und nippte an einer bunten Henkeltasse, die sie wahrscheinlich auf einer dieser Busreisen für Senioren abgestaubt hatte. Frau Kayser war der Typ für solche Kaffeefahrten, dachte Mona, aber vermutlich eine der wenigen Teilnehmerinnen, der man keine überteuerten Küchengeräte oder angeblich kreislaufanregende Badewannensprudler andrehen konnte. Diese Frau, so alt wie sie war, ließ sich bestimmt nicht über den Tisch ziehen. Die sah im Gegenteil aus, als sei sie stolz darauf, mit allen Wassern gewaschen zu sein.
»Setzen Sie sich doch«, sagte Helga Kayser, und Mona bildete sich ein, dass ihre Stimme höhnisch klang. Die Katze schien diese Aufforderung auf sich zu beziehen, sprang erst aufs Sofa, dann wieder herunter und lief schließlich an Mona vorbei quer durchs Wohnzimmer, wahrscheinlich direkt in die Küche. Helga Kayser beachtete das Tier nicht.
Eine merkwürdige Person.
Mona setzte sich auf den Stuhl, der so unbequem war, wie er aussah, und holte ihr Tonbandgerät aus der Tasche. Sie sah sich in diesem ungastlichen Zimmer um. Etwas, dachte sie, fehlte in diesem Raum, und in der nächsten Sekunde erkannte sie, was es war: Familienfotos. Erinnerungsstücke diverser Reisen. Überhaupt Nippes jeder Art. Es gab keine Bilder an den Wänden, keinerlei persönlichen Krimskrams, der sich doch normalerweise im Laufe der Zeit ansammelte, ohne dass man das Geringste dagegen unternehmen konnte. Anders bei Frau Kayser. Die Einrichtung war augenscheinlich seit Jahrzehnten dieselbe, und es war offenbar nichts dazugekommen.
Eine Frau ohne Vergangenheit, dachte Mona. Oder zumindest eine Frau, bei der sich seit vierzig Jahren nichts getan hat. Gab es so jemanden überhaupt?
»Haben Sie Kinder?«, fragte Mona, während sie das Aufnahmegerät aus ihrer Tasche holte und auf den spiegelblanken Glastisch zwischen ihnen beiden stellte. Im selben Moment fiel ihr ein, dass Forster das ja bereits recherchiert hatte.
»Nein«, sagte die Frau. »Ist das wichtig?«
»Das kommt drauf an«, sagte Mona und schaltete das Gerät ein. Sie sprach Datum, Uhrzeit, Frau Kaysers Namen darauf. »Sie sind damit einverstanden, dass ich dieses Gespräch aufzeichne?«
»Bleibt mir was anderes übrig?«
»Antworten Sie einfach nur mit ja oder nein.«
»Und wenn ich nein sage, was dann?«
»Dann können wir Sie vorladen, und die Sache verzögert sich um einen weiteren Tag. Wenn Ihnen das lieber ist, können wir das auch so machen.«
Die Frau tat einen tiefen Seufzer und setzte ihre Tasse mit einem Knall auf dem Glastisch ab. »Also fragen Sie schon um Himmels Willen.«
Wenigstens war sie nicht senil, und das war unter diesen Umständen schon eine Menge wert.
25
Mittwoch, 23. 7., 17.20 Uhr
Davids flackernder Blick beruhigte sich und heftete sich auf Plessens Augen. Sie waren blau mit einem bräunlich-orangefarbenen Ring um die Iris. Die ältesten, weisesten Augen der Welt, kam es David vor. Er spürte seine heißen Tränen auf den Wangen. Ein verstecktes Schluchzen hob seinen Brustkorb: Er war wieder ein sechsjähriger Junge, und sein Vater hatte ihm eine Ohrfeige verpasst, weil David seine rechte Socke nicht gefunden hatte an einem kalten, dunklen Herbstmorgen. Sein Vater wollte ihn in die Schule bringen, er hatte heute dienstfrei, und das war eigentlich ein Grund zur Freude, aber David konnte sich ohne Socke nicht vollständig anziehen. Er spürte den demütigenden Schmerz ein zweites Mal nach so vielen Jahren. Dazu kam die profunde Hoffnungslosigkeit: Sein Vater war ein Menetekel. Unberechenbar und unendlich mächtig. Ein Gott, die meiste Zeit unsichtbar, aber dann wieder überwältigend in seiner zornigen Präsenz. Groß, schlank und schön. Und voller Hass, den David auf sich beziehen musste, denn seine Mutter war nicht da.
»Wo war deine Mutter?«, fragte Fabian. »Wo war
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